Baukunst - Abriss-Revolution: Wie digitale Innovationen Deutschlands Gebäudebestand transformieren
Weniger Abrisse, mehr Innovation © Depositphotos_11164203_S

Abriss-Revolution: Wie digitale Innovationen Deutschlands Gebäudebestand transformieren

21.08.2025
 / 
 / 
Berthold Bürger

Strukturwandel im Bauwesen: Digitale Zwillinge als Paradigma nachhaltiger Stadtentwicklung

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: 36 Prozent weniger Wohngebäude wurden 2021 abgerissen als noch 2007, wie die wegweisende LoLaRE-Studie der TU Dresden zeigt. Diese Entwicklung markiert nicht nur eine statistische Wende, sondern einen fundamentalen Technologiesprung im deutschen Bauwesen. Während jährlich noch immer rund 12.000 Gebäude dem Abriss zum Opfer fallen, revolutionieren digitale Zwillinge, KI-gestützte Planungstools und adaptive Gebäudekonzepte die Art, wie wir über Bestandsarchitektur denken. Der Rückgang der Abrisszahlen ist dabei kein Zufall, sondern das Resultat einer orchestrierten Digitalisierungsoffensive, die vom Planungsstadium bis zum Gebäuderessourcenpass reicht.

Digitale Gebäudepässe als Gamechanger

Der Durchbruch kommt aus der Cloud: Materielle Gebäudepässe (MGP) und EU-Taxonomie-Konformität werden durch BIM-gekoppelte Algorithmen automatisiert bewertet, wie das Projekt Circular Twin demonstriert. Diese digitalen Zwillinge sind weit mehr als virtuelle Abbilder – sie sind prädiktive Modelle, die End-of-Life-Szenarien in Virtual-Reality-Umgebungen simulieren und bereits in der Planungsphase Umnutzungspotenziale aufzeigen.

Charlotte Dorn von der TU Dresden identifiziert die entscheidenden technischen Parameter: „Geschosshöhen, vertikale Erschließung, tragende Strukturen und Lastreserven” seien die kritischen Faktoren für adaptive Gebäude. Hier setzt die neue Generation von BIM-Tools an: Generative Design-Algorithmen, gekoppelt mit Machine-Learning-Modellen, optimieren diese Parameter automatisch für maximale Nutzungsflexibilität. Das Urban Mining Kataster geht noch einen Schritt weiter und erfasst systematisch Materialpotenziale von bis zu 52 Millionen deutschen Gebäuden, um Ressourcenkreisläufe transparent zu machen.

KI-Revolution auf der Baustelle

Die Transformation beschränkt sich nicht auf digitale Modelle. Robotergestützte 3D-Druckverfahren verkürzen die Bauzeit um den Faktor vier, wie das DRK-Projekt in Beckum eindrucksvoll beweist. Sechsachsige Knickarmroboter von ABB drucken dabei 150 Quadratmeter Innenwände in nur 100 Stunden – eine Geschwindigkeit, die konventionelle Bauweisen revolutioniert.

Die wahre Innovation liegt jedoch in der Adaptivität: KI-gestützte generative Gestaltung kann Entwurfsalternativen nicht nur generieren, sondern auch bewerten. Diese Systeme berücksichtigen komplexe Entwurfsvorgaben, Raumfunktionen und Raumbeziehungen simultan und entwickeln bionische Formen, die mit konventionellen CAD-Methoden undenkbar wären. Parallel dazu erfassen Helmkameras und Drohnen den Baufortschritt in Echtzeit, während KI-Algorithmen Bauobjekte automatisiert erkennen und mit dem BIM-Ausführungsmodell abgleichen.

Bestandsmodellierung mittels KI

Das BIMKIT-Projekt, gefördert mit 10,8 Millionen Euro vom Bundeswirtschaftsministerium, adressiert eine zentrale Herausforderung: die Überführung von zweidimensionalen Plänen, Bildern und Punktwolken in digitale 3D-Bauwerksmodelle mittels künstlicher Intelligenz. Diese Technologie ist der Schlüssel zur Digitalisierung des Bestandsbaus – gerade hier, wo die meisten Abrisse stattfinden.

Die Zahlen der LoLaRE-Studie unterstreichen die Dringlichkeit: 17 Prozent der abgerissenen Wohngebäude waren weniger als 43 Jahre alt. Diese vorzeitigen Abrisse könnten durch präzise digitale Bestandsmodelle und KI-gestützte Sanierungskonzepte vermieden werden. Moderne Sensorsysteme, einschließlich taktiler Roboterhäute und bildgeführter Automatisierungsprozesse, ermöglichen dabei eine millimetergenaue Erfassung bestehender Strukturen.

Kreislaufwirtschaft als Innovationstreiber

Die Integration von Circular-Economy-Prinzipien in digitale Planungstools markiert einen Paradigmenwechsel. Bis 2030 wird mehr als das Äquivalent von zwei Erden benötigt, um den Bedarf an natürlichen Ressourcen zu decken – die Bauindustrie ist dabei für 60 Prozent des weltweiten Rohstoffabbaus verantwortlich. Die Antwort: Product-as-a-Service-Modelle und digitale Gebäude-Ressourcen-Pässe, die jedes Bauteil tracken und seinen Lebenszyklus dokumentieren.

BIM ermöglicht die detaillierte digitale Abbildung von Bauwerken, einschließlich geometrischer und alphanumerischer Informationen zu den geplanten Materialien. Diese Datengrundlage ist essentiell für die von der Ellen MacArthur Foundation prognostizierte CO2-Reduktion von 38 Prozent bis 2050 durch zirkuläre Bauweisen.

Smart Buildings als Lebenszyklusverlängerer

Die nächste Evolutionsstufe sind intelligente Gebäude mit selbstadaptiven Systemen. Predictive Maintenance, gesteuert durch IoT-Sensoren und Machine-Learning-Algorithmen, erkennt Verschleiß bevor er kritisch wird. Der digitale Zwilling speichert über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes – während Planung, Bauzeit, Bewirtschaftung und Rückbau – sämtliche Daten des Bauwerks.

Diese Technologiekonvergenz ermöglicht es, Gebäude nicht mehr als statische Objekte, sondern als adaptive Systeme zu verstehen. KI-basierte Video-Branddetektionssysteme, automatisierte Energieoptimierung und selbstlernende Facility-Management-Systeme verlängern die Nutzungsdauer signifikant und machen viele Abrisse obsolet.

Regulatorischer Rückenwind

Die Bundesregierung forciert die digitale Transformation: Bei Hochbauprojekten des Bundes wird seit 2023 die digitale Planungsmethode Building Information Modeling verbindlich vorgeschrieben. BIM Deutschland fungiert als nationales Kompetenzzentrum und treibt die Standardisierung voran. Diese Top-Down-Initiative trifft auf Bottom-Up-Innovationen aus der Startup-Szene, die mit agilen Lösungen für digitale Gebäudepässe und KI-gestütztes Asset-Management punkten.

Ausblick: Die sich selbst optimierende Stadt

Die Zukunft gehört kognitiven Gebäuden, die sich selbst diagnostizieren, ihren Energieverbrauch optimieren und Umnutzungsoptionen vorschlagen. Die LoLaRE-Studie ist dabei nur der Anfang einer datengetriebenen Revolution, die das Bauwesen fundamental transformiert. Wenn 21 Prozent der zwischen 2016 und 2021 abgängigen Wohngebäude nur ein Gebäudealter von maximal 43 Jahren aufweisen, wird klar: Die Integration von Adaptivität und Intelligenz in die Gebäude-DNA ist keine Option mehr, sondern ökonomische und ökologische Notwendigkeit.

Die Technologien sind vorhanden, die regulatorischen Weichen gestellt. Was jetzt zählt, ist die konsequente Umsetzung einer Vision, in der Gebäude nicht mehr abgerissen, sondern transformiert werden – gesteuert von Algorithmen, die Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit in Echtzeit optimieren. Der Rückgang der Abrisszahlen ist erst der Anfang einer Ära, in der Architektur fluid, adaptiv und intelligent wird.