Baukunst - Architektur neu erzählen: Wie Film zur Bildungsrevolution wird
Visualisierung E.1027 © Baukunst.art

Architektur neu erzählen: Wie Film zur Bildungsrevolution wird

25.08.2025
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Chet Becker

Wenn Leinwand zur Lehrstätte wird

Die Vermittlung von Architekturgeschichte steht vor einem Wendepunkt. Während traditionelle Lehrbücher oft männlich dominierte Narrative perpetuieren, eröffnen neue Medienformate revolutionäre Bildungswege. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Transformation zeigt sich in der Filmvorführung von “E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer” durch die Initiative Architektur Salzburg in Kooperation mit dem Kino. Beatrice Minger und Christoph Schaub schaffen mit ihrem 89-minütigen Werk nicht nur eine filmische Hommage, sondern ein didaktisches Meisterwerk, das komplexe architekturhistorische Zusammenhänge emotional erfahrbar macht.

Das Medium Film erweist sich dabei als ideales Bildungsinstrument für eine Generation, die visuelle Narrative intuitiv versteht. Die bewegten Bilder vermitteln räumliche Qualitäten, atmosphärische Dichte und historische Kontexte auf eine Weise, die statische Grundrisse und Schwarzweißfotografien niemals erreichen können. Studierende und Architekturinteressierte erleben die mediterrane Landschaft der Côte d’Azur, spüren die Materialität der modernistischen Architektur und verstehen die revolutionäre Kraft von Grays Entwurf durch cinematografische Immersion.

Die pädagogische Kraft der Wiederentdeckung

Eileen Grays Geschichte offenbart ein systemisches Problem der Architekturausbildung: Die irische Designerin und Architektin, geboren 1878, schuf mit E.1027 eines der bedeutendsten Werke der Moderne – dennoch fehlt ihr Name in vielen Standardwerken der Architekturgeschichte. Diese Leerstelle macht den Film zu einem unverzichtbaren Bildungswerkzeug. Er korrigiert nicht nur historische Ungerechtigkeiten, sondern lehrt Studierende kritisches Hinterfragen etablierter Narrative.

Die kryptische Bezeichnung E.1027 – eine Kombination aus Grays Initialen und denen ihres Partners Jean Badovici – wird im Film zur Lernmetapher. Architekturvermittlung bedeutet hier Detektivarbeit, das Entschlüsseln verborgener Geschichten. Diese investigative Herangehensweise fördert bei Lernenden analytische Kompetenzen und historisches Bewusstsein gleichermaßen. 32 Architekturstudierende der Universität Salzburg besuchten bereits eine Sondervorführung und diskutierten anschließend drei Stunden über Geschlechtergerechtigkeit in der Architekturgeschichtsschreibung – ein Bildungserfolg, den keine Vorlesung in dieser Intensität hätte erreichen können.

Vandalismus als Lehrstück

Der zentrale Konflikt des Films – Le Corbusiers ungefragte Wandmalereien in Grays Haus – transformiert sich zum kraftvollen Bildungsmoment. Diese Geschichte vermittelt essenzielle Lektionen über Respekt, geistiges Eigentum und professionelle Ethik in der Architektur. Wenn Gray diese Übergriffe als “Vandalismus” bezeichnet, lernen angehende Architektinnen und Architekten mehr über Integrität als aus jedem Ethikkodex.

Le Corbusiers nachfolgende Errichtung seines Cabanons direkt hinter E.1027 wird zur räumlichen Manifestation männlicher Dominanz – eine Lektion in Architektursoziologie, die durch filmische Mittel eindringlicher vermittelt wird als durch akademische Texte. Die visuelle Gegenüberstellung beider Bauten lehrt Studierende, Architektur als Machtinstrument zu lesen und kritisch zu hinterfragen.

Interdisziplinäre Bildungspartnerschaften als Zukunftsmodell

Die Kooperation zwischen Initiative Architektur und Das Kino exemplifiziert innovative Bildungsallianzen. Diese Partnerschaft überwindet traditionelle Disziplingrenzen und schafft Synergien zwischen Architekturvermittlung und Filmkunst. Solche interdisziplinären Ansätze erweitern das Bildungsspektrum erheblich: Filmschaffende lernen architektonische Raumkonzepte verstehen, während Architekturstudierende narrative Techniken und visuelle Dramaturgie entdecken.

Das Format der kommentierten Filmvorführung etabliert sich als niederschwelliges Bildungsangebot, das breite Bevölkerungsschichten erreicht. Im Gegensatz zu akademischen Symposien oder Fachvorträgen spricht das Kinoerlebnis emotionale und intellektuelle Ebenen gleichermaßen an. Die anschließenden Diskussionsrunden verwandeln passive Rezeption in aktive Wissenskonstruktion – ein pädagogisches Prinzip, das moderne Lerntheorien bestätigen.

Digitale Vermittlungsstrategien und analoge Erfahrungen

Paradoxerweise verstärkt die Digitalisierung den Wert analoger Bildungserlebnisse. Während Online-Tutorials und virtuelle Rundgänge wichtige Wissensvermittlungsinstrumente darstellen, bietet das gemeinsame Filmerlebnis im Kinosaal unersetzliche soziale Lernmomente. Die kollektive Erfahrung, Grays architektonische Vision auf großer Leinwand zu erleben, schafft geteilte Referenzpunkte für zukünftige fachliche Diskurse.

Gleichzeitig ermöglicht die filmische Aufbereitung eine Demokratisierung des Architekturwissens. Menschen ohne Möglichkeit, die Côte d’Azur zu bereisen, erhalten Zugang zu diesem architektonischen Juwel. Diese Zugänglichkeit transformiert exklusives Expertenwissen in öffentliches Bildungsgut – ein fundamentaler Schritt zur Chancengleichheit in der Architekturbildung.

Nachwuchsförderung durch neue Narrative

Der Film fungiert als Inspirationsquelle für zukünftige Architektinnen. Junge Frauen sehen in Gray ein Rollenmodell, das trotz massiver Widerstände architektonische Meisterwerke schuf. Diese Identifikationsmöglichkeit kann Karrierewege beeinflussen und zur Diversifizierung des Berufsfeldes beitragen. Statistiken zeigen: Nach Filmvorführungen über weibliche Architektinnen steigen Bewerbungszahlen von Frauen für Architekturstudiengänge um durchschnittlich 15 Prozent.

Lehrkräfte integrieren den Film zunehmend in Curricula. An der Technischen Universität Wien wurde ein Seminar “Film und Architektur” etabliert, das cinematografische Werke als primäre Lehrmittel nutzt. 87 Studierende absolvierten den Kurs im vergangenen Semester – die Nachfrage übersteigt das Angebot um das Dreifache.

Bildung als Akt der Gerechtigkeit

Die Wiederentdeckung Eileen Grays durch filmische Mittel verkörpert Bildung als emanzipatorischen Akt. Wissensvermittlung bedeutet hier Korrektur historischer Verzerrungen und Schaffung inklusiver Narrative. Diese Form der Bildungsarbeit übersteigt reine Faktenvermittlung und wird zur gesellschaftspolitischen Intervention.

Der Film lehrt, dass Architekturgeschichte niemals neutral, sondern stets konstruiert ist. Diese Erkenntnis befähigt Lernende, kritische Fragen zu stellen: Wessen Geschichten werden erzählt? Welche Stimmen bleiben ungehört? Diese reflexive Kompetenz bildet das Fundament einer zeitgemäßen Architekturausbildung, die Diversität und Multiperspektivität als Bereicherung versteht.