Baukunst-Bürgerforum gestrichen - Das verschenkte Herz der Demokratie
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Bürgerforum gestrichen – Das verschenkte Herz der Demokratie

25.05.2025
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Claudia Grimm

Die verlorene Mitte der Demokratie

Berlin zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Das endgültig gescheiterte Bürgerforum

Im Herzen der deutschen Demokratie klafft eine Lücke, die mehr als drei Jahrzehnte nach dem Hauptstadtbeschluss schmerzhaft sichtbar bleibt. Wo nach dem preisgekrönten Entwurf der Berliner Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank das Bürgerforum als städtebauliches Bindeglied zwischen Bundeskanzleramt und Paul-Löbe-Haus entstehen sollte, finden sich heute lediglich ein Wasserspiel und die nach der Bundestagspräsidentin Annemarie Renger benannte Straße.

Die Geschichte dieses Scheiterns erzählt exemplarisch von den Herausforderungen regionaler Planungskultur in einem föderalen System, wo Bund und Land Berlin unterschiedliche Prioritäten verfolgen und Sicherheitsdenken über städtebauliche Visionen triumphiert.

Die Vision des Bandes des Bundes

Als Schultes und Frank 1992/93 den städtebaulichen Wettbewerb für das Parlaments- und Regierungsviertel gewannen, setzten sie sich unter mehr als 800 Entwürfen mit einer kraftvollen Idee durch: Das Band des Bundes sollte sich von Ost nach West durch den Spreebogen ziehen und dabei symbolisch die ehemalige innerstädtische Grenze überwinden. Legislative und Exekutive sollten einander gegenüberstehen, verbunden durch ein Forum für die Bürgerinnen und Bürger.

Das Konzept war mehr als architektonische Gestaltung – es war ein demokratietheoretisches Statement. Während Kanzleramt, Paul-Löbe-Haus und Marie-Elisabeth-Lüders-Haus realisiert wurden, blieb das Herzstück der Komposition ungebaut. Die ursprüngliche Planungsidee sah vor, dass die Bürgerschaft nicht nur zu Besichtigungstouren und Tagen der offenen Tür ins Regierungsviertel eingeladen wird, sondern einen dauerhaften Platz erhält.

Berliner Planungsrecht gegen Bundessicherheit

Die entscheidende Weichenstellung erfolgte 2018, als die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung eine Änderung des Bebauungsplans initiierte. Diese Planungsrechtsänderung schrieb die ursprünglich provisorische Straßenführung über die Bürgerforum-Fläche dauerhaft fest und verhinderte somit unwiderruflich die bauliche Umsetzung des ursprünglichen Entwurfs.

Diese Entscheidung stieß in der Fachwelt auf heftige Kritik, da sie ohne ausreichenden öffentlichen Diskurs über die städtebauliche Funktion des Ortes getroffen wurde. Senatsbaudirektorin Regula Lüscher begründete den Schritt mit „gestiegenen Sicherheitsanforderungen“ – ein Argument, das die komplexe Gemengelage zwischen regionaler Planungshoheit und Bundessicherheitsinteressen verdeutlicht.

Infrastrukturelle Vorleistungen ohne Zukunft

Besonders bitter wird das Scheitern durch die bereits erbrachten infrastrukturellen Vorleistungen. Für den U-Bahnhof Bundestag wurden beim Bau direkte Zugänge zum geplanten Bürgerforum berücksichtigt. Im Untergrund bündeln sich die drei Tiergartentunnel: Spreebogen, Nord-Süd-Fernbahn und U-Bahn-Linie U5. Diese unterirdische Verkehrsführung hätte es ermöglicht, die Oberfläche weitgehend dem Fußverkehr zu überlassen – genau wie im ursprünglichen Konzept vorgesehen.

Die provisorische Straßenführung zur Umfahrung der Schweizerischen Botschaft zerschneidet jedoch nach wie vor den Spreebogenpark und verhindert die Fertigstellung der geplanten Wegebeziehungen. Ein Rückbau scheiterte trotz vereinbarter Verkehrsplanung an Sicherheitsüberlegungen von Bundestag und Bundeskanzleramt.

Kompromissversuche und politisches Patt

Gespräche zwischen Land Berlin und Bund über Kompromisslösungen scheiterten bereits 2008. Erst ein Jahrzehnt später, 2018, konnte Einigkeit über einen neuen Vorschlag erzielt werden, der den Rückbau der Umfahrungsstraße an der Schweizer Botschaft sowie eine Sperrung der Kanzleramtsstraße für Durchgangsverkehr vorsah. Die Straße über das Bürgerforum sollte jedoch als Ersatz für die gesperrte Durchfahrt vor dem Paul-Löbe-Haus erhalten bleiben.

Aus der Bundesregierung kommen widersprüchliche Signale. Das Bundesinnenministerium erklärt, das Konzept werde „wegen der inzwischen sehr deutlich verschärften Sicherheitsanforderungen der benachbarten Anlieger nicht weiter verfolgt“. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki zeigt sich hingegen „grundsätzlich aufgeschlossen“, verweist aber auf das geplante Besucher- und Informationszentrum des Bundestags als Alternative.

Regionale Planungskultur unter Druck

Das Bürgerforum-Debakel verdeutlicht strukturelle Probleme der Berliner Planungskultur. Die Hauptstadt muss als Land gleichzeitig Standortinteressen des Bundes berücksichtigen und eigene städtebauliche Ziele verfolgen. Diese Doppelrolle führt zu Konflikten, die auf Kosten architektonischer und städtebaulicher Qualität gehen.

Linken-Abgeordnete Katalin Gennburg kritisiert die „inakzeptable Planungskultur“ und fordert einen „planerischen Neustart“. Ihre Kritik trifft einen neuralgischen Punkt: Während im Regierungsviertel bereits wieder Sanierungen anstehen, wartet das Bürgerforum weiterhin darauf, „ein Begegnungsort zu werden“.

Sicherheitsparanoia versus Demokratieförderung

Die Begründung mit „verschärften Sicherheitsanforderungen“ offenbart einen grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen Schutzinteressen und demokratischer Öffnung. Das Kanzleramt wirkt bereits heute wie eine „wohlabgeschirmte Festung“, umgeben von Stahlzäunen und Bundespolizei. Ein Bürgerforum hätte diesem Eindruck entgegenwirken können.

Die Ironie der Geschichte: Während Nichtregierungsorganisationen wie Transparency International oder Lobby Control, die Verflechtungen zwischen Politik und Wirtschaft aufdecken, keinen Platz im Regierungsviertel finden, entstehen kontinuierlich neue Bürobauten für den wachsenden Bundestag.

Alternative Konzepte und verpasste Chancen

Das KulturerbeNetz Berlin schlägt als Alternative das Rathausforum vor, das nach denkmalgerechter Erneuerung ein attraktives Bürgerforum für Bewohnerinnen und Bewohner aus Ost und West bieten könnte. Dort könnte auch die im Koalitionsvertrag geforderte östliche Anlaufstelle der Landeszentrale für politische Bildung Quartier beziehen.

Diese Überlegung zeigt: In einer polyzentrischen Stadt wie Berlin braucht es mehrere Orte des politischen Dialogs. Das gescheiterte Bürgerforum im Regierungsviertel hätte jedoch durch seine zentrale Lage und symbolische Bedeutung eine einzigartige Rolle gespielt.

Historische Symbolik und verpasste Gelegenheiten

Städtebaulich hätte das Bürgerforum einen Lückenschluss von geschichtlicher Bedeutung vollzogen. Das Band des Bundes durchkreuzt bewusst die einst von Albert Speer erdachte Nord-Süd-Achse. Diese Symbolik – demokratische Architektur überwindet autoritäre Planungsvisionen – wäre durch die Vollendung des Ensembles verstärkt worden.

Stattdessen bleibt dem Volk im Regierungsviertel buchstäblich nur die Straße als Demonstrationsfläche. Die symbolische Besetzung durch Occupy-Aktivisten 2012 machte dies schmerzlich deutlich: Drei Zelte zwischen Kanzleramt und Jakob-Kaiser-Haus, aufgestellt genau dort, wo das Bürgerforum hätte entstehen sollen.

Lehren für die regionale Planungspraxis

Das Scheitern des Bürgerforums liefert wichtige Erkenntnisse für die regionale Planungspraxis. Erstens: Städtebauliche Visionen benötigen kontinuierliche politische Unterstützung über Legislaturperioden hinweg. Zweitens: Sicherheitsinteressen und demokratische Öffnung müssen von Beginn an mitgedacht und ausbalanciert werden. Drittens: In komplexen Mehrebenen-Konstellationen braucht es klare Zuständigkeiten und verbindliche Finanzierungskonzepte.

Die Berliner Erfahrung zeigt auch, dass provisorische Lösungen zur Dauerlösung werden können, wenn der politische Wille zur Umsetzung ursprünglicher Pläne schwindet. Die „Entlastungsstraße“ über das Bürgerforum ist hierfür ein warnendes Beispiel.

Fazit: Eine unvollendete Demokratie

Das gestrichene Bürgerforum steht symptomatisch für eine Planungskultur, die Sicherheitsdenken über demokratische Partizipation stellt. Mehr als 30 Jahre nach dem Hauptstadtbeschluss bleibt das Band des Bundes unvollendet – eine Metapher für die Herausforderungen der deutschen Demokratie.

Die Polarisierung in wichtigen gesellschaftlichen Fragen zeigt, dass der Redebedarf eher größer als kleiner wird. Ein Bürgerforum hätte einen Ort geschaffen, wo Bürgerinnen und Bürger die Tagesordnung bestimmen. Stattdessen dokumentiert die Leerstelle zwischen Kanzleramt und Bundestag das Scheitern einer Vision, die Demokratie räumlich erfahrbar machen wollte.

Berlin als Hauptstadt und Bundesland muss aus dieser Erfahrung lernen: Regionale Planungskultur braucht Mut zur Vision, Durchhaltevermögen in der Umsetzung und den Willen, demokratische Teilhabe auch gegen Sicherheitsbedenken zu ermöglichen. Nur so kann verhindert werden, dass weitere städtebauliche Ideen den bürokratischen und politischen Realitäten zum Opfer fallen.