Baukunst-Das große Entrümpeln: Wie Hessen seine Bauordnung von 20.000 Vorschriften befreien will
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Das große Entrümpeln: Wie Hessen seine Bauordnung von 20.000 Vorschriften befreien wil

22.10.2024
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stu.ART

 

Das große Entrümpeln: Wie Hessen seine Bauordnungvon 20.000 Vorschriften befreien will

Es klingt wie eine Szene aus Franz Kafkas „Das Schloss“: Ein Architekt möchte ein simples Wohngebäude planen und findet sich in einem Labyrinth aus 20.000 Bauvorschriften wieder. Was nach literarischer Übertreibung klingt, ist in Hessen bittere Realität. Die Hessische Bauordnung (HBO) umfasst zwar „nur“ 93 Paragraphen, doch die technischen Ausführungsbestimmungen füllen weitere 581 Seiten. Hinzu kommen unzählige Vorgaben von EU, Bund und Kommunen. „Wir müssen aufpassen, dass wir uns damit nicht selbst strangulieren“, warnt Martin Kraushaar, Hauptgeschäftsführer der Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen.

Der Reformprozess: Zwischen Hoffnung und Herausforderung

Die Landesregierung hat das Problem erkannt und eine Kommission „Innovation im Bau“ einberufen, die seit Mitte 2024 die Reformvorschläge sichtet. Der Zeitplan ist ambitioniert: Bis 2025 soll die neue Bauordnung stehen. Als Architekt mit vier Jahrzehnten Berufserfahrung wage ich zu behaupten: Es wird höchste Zeit.

Die drei Haupthebel der Reform

Axel Tausendpfund, Vorstand des Verbands der Südwestdeutschen Wohnungswirtschaft, hat drei zentrale Ansatzpunkte identifiziert:

  1. Stellplatzregelung: Die aktuelle Vorschrift, bis zu zwei Parkplätze pro neuer Wohnung zu schaffen, erscheint besonders in urbanen Gebieten anachronistisch. Die Realität zeigt: Viele dieser teuren Tiefgaragenplätze bleiben ungenutzt.
  2. Bestandsschutz bei Aufstockung: Wenn Gebäude aufgestockt werden, müssen bislang auch die bestehenden Gebäudeteile auf den neuesten Stand gebracht werden. Eine kostspielige Regelung, die viele sinnvolle Projekte verhindert.
  3. Realistische Standards: Deutschland baut die dicksten Geschossdecken Europas. Der überzogene Schallschutztreibt nicht nur die Kosten, sondern auch den CO₂-Ausstoß in die Höhe.

Zwischen Sicherheit und Fortschritt

Die Bauordnung dient primär der Gefahrenabwehr – ein durchaus nobles Ziel. Doch über die Jahre hat sich ein regulatorischer Sedimentgestein gebildet, in dem jede neue Vorschrift wie eine weitere geologische Schicht abgelagert wurde, ohne dass Überholtes entfernt wurde.

Die Chance auf Innovation

Die Reform bietet die Chance, das Bauwesen grundlegend zu modernisieren. Ein vielversprechender Ansatz ist die geplante Beweislastumkehr: Künftig soll man von Normen abweichen dürfen, wenn niemand begründete Zweifel an der Sicherheit anmeldet. Das könnte innovative Bauweisen fördern und den Weg für nachhaltigere Lösungen ebnen.

Ausblick: Das Potenzial der Reform

Allein im Rhein-Main-Gebiet könnten durch erleichterte Aufstockung und Dachgeschossausbau 240.000 neue Wohnungen entstehen. Eine beeindruckende Zahl, die zeigt, welches Potenzial in der Reform steckt.

Fazit: Mut zur Veränderung

Die Reform der Hessischen Bauordnung ist mehr als ein bürokratisches Projekt – sie ist ein Lackmustest für die Zukunftsfähigkeit des Bauwesens in Deutschland. Der Erfolg wird davon abhängen, ob es gelingt, den schmalen Grat zwischen notwendiger Sicherheit und lähmender Überregulierung zu finden.

Als jemand, der seit vier Jahrzehnten Gebäude plant und realisiert, kann ich nur sagen: Die Zeit ist reif für diesen Paradigmenwechsel. Die hessische Initiative könnte zum Vorbild für andere Bundesländer werden – vorausgesetzt, der Reformeifer erlahmt nicht im Dickicht der Partikularinteressen.