Deutscher Nachhaltigkeitspreis Baukunst - Architektur 2025: Wie die Mehrzweckhalle Ingerkingen das Weiterbauen revolutioniert
mehrzweckhalle ingerkingen © brigida-gonzalez

Deutscher Nachhaltigkeitspreis Architektur 2025: Wie die Mehrzweckhalle Ingerkingen das Weiterbauen revolutioniert

15.12.2025
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Ignatz Wrobel

Weiterbauen statt Abreißen: Deutscher Nachhaltigkeitspreis geht nach Oberschwaben

Am 27. November 2025 wurde in der Bundeskunsthalle Bonn eine Entscheidung verkündet, die weit über die üblichen Preiswürdigungen hinausweist. Der 13. Deutsche Nachhaltigkeitspreis Architektur ging an ein Projekt, das auf den ersten Blick unspektakulär erscheint: die sanierte und erweiterte Mehrzweckhalle im oberschwäbischen Ingerkingen, einem Ortsteil der Gemeinde Schemmerhofen südwestlich von Ulm. Doch gerade diese vermeintliche Unscheinbarkeit macht den eigentlichen Reiz und die Tragweite dieser Auszeichnung aus.

Das Stuttgarter Architekturbüro Atelier Kaiser Shen hat hier demonstriert, was nachhaltiges Bauen im besten Sinne bedeuten kann: nicht das Ersetzen durch Neues, sondern das intelligente Weiterschreiben einer baulichen Geschichte. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) und die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis würdigten das Projekt als herausragendes Beispiel für ökologisch wie architektonisch überzeugendes Weiterbauen im Sinne des Gemeinwohls.

Ein Dorf und seine Halle

Die ursprüngliche Mehrzweckhalle wurde 1964 nach Plänen der Architekten Pfalzer und Schenk als Schulsporthalle errichtet. Über sechs Jahrzehnte hinweg diente sie als sozialer Mittelpunkt der Gemeinde, wurde mehrfach umgebaut und erweitert. In direkter Nachbarschaft zu Grundschule, Musikerheim und Feuerwehr bildet sie das Herz des Dorflebens. Neben dem Schulsport dient sie Vereinen als Treffpunkt, Veranstaltungs und Trainingsort.

Als 2020 der Wettbewerb ausgeschrieben wurde, ließ die Gemeinde bewusst offen, ob die sanierungsbedürftige Halle erhalten oder einem Neubau weichen sollte. Für Kilian Juraschitz, der seit September 2025 gemeinsam mit Florian Kaiser das Büro leitet und als Kind selbst in dieser Halle am Sportunterricht teilgenommen hatte, war die Entscheidung klar. Das Team entschied sich für eine behutsame Transformation, geleitet vom Bild einer zerbrochenen chinesischen Porzellanschüssel, die nach der Reparatur erst ihre eigentliche Poesie entfaltet.

Konstruktive Innovation als Schlüssel

Der Bestandserhalt konnte nur durch ein innovatives Tragwerk realisiert werden. Gemeinsam mit dem Stuttgarter Tragwerksplanungsbüro str.ucture unter der Leitung von Julian Lienhard entwickelte das Team eine Lösung, die technisch und ästhetisch überzeugt. Um den Anforderungen einer zeitgenössischen Einfeldsporthalle zu genügen, wurde die Halle im südlichen und östlichen Bereich rückgebaut und vergrößert. Dabei blieben Fundamente und Bodenplatte, Decken, die massiven Wände im nördlichen Teil sowie der straßenseitige Bühnentrakt erhalten. Insgesamt konnten rund 60 Prozent der Baumasse bewahrt werden.

Das eigentlich Innovative ist ein einhüftiger Zweigelenkrahmen aus Brettschichtholz, der auf dem Achsraster der bestehenden Stahlbetonstützen ausgerichtet ist. Durch die Trägergeometrie und die biegesteife Rahmenecke werden etwa 60 Prozent der Vertikal und alle Horizontallasten in die neuen Fundamente im Süden eingeleitet. Die Hallenrahmen geben lediglich 40 Prozent der Vertikallasten und keine Horizontallasten an den Bestand ab. Die geschwungene Form der Binder zeichnet den Momentenverlauf nach und verleiht dem Innenraum eine spielerische Leichtigkeit.

Julian Lienhard beschreibt das Zusammenspiel von Alt und Neu als Win Win Win Situation: Der Überstand des Daches entlastet durch sein Eigengewicht das Feld, ermöglicht eine Querschnittsoptimierung und fungiert gleichzeitig als konstruktiver Holzschutz. Die Auskragung nach Süden schafft zudem eine wettergeschützte Terrasse, die bei gutem Wetter direkt mit der Halle verbunden werden kann.

Materialität und Kreislaufdenken

Die Architekten wählten Materialien und Fügungen so, dass ein Großteil der Baustoffe bei einem möglichen Rückbau sortenrein trennbar und in die Kreislaufwirtschaft zurückgeführt werden können. Der Bestand wurde gedämmt und verputzt, während die Aufstockung und Erweiterung eine hinterlüftete Holzfassade aus unbehandelter Fichte erhielten. Der Versatz von rund zwölf Zentimetern zwischen dem dünneren Holzrahmenbau und dem alten Mauerwerk schärft die Plastizität des Bauwerks und macht Alt und Neu ablesbar.

Den Beweis der Vorzüge trennbarer Konstruktionen lieferten die Nutzerinnen und Nutzer selbst. Um Kosten zu sparen, wurde die alte Halle vorab von örtlichen Vereinen ehrenamtlich entkernt. Ausgebaute Sanitärobjekte und die Kücheneinrichtung wurden weiterverkauft, die Leistenschalung der ehemaligen Holzbekleidung fand als Fassade einer nahegelegenen Waldhütte eine zweite Nutzung. Ein eindrucksvolles Beispiel gelebter Kreislaufwirtschaft auf kommunaler Ebene.

Gemeinwohl als architektonische Kategorie

DGNB Vizepräsident Martin Haas betonte in seiner Laudatio den identitätsstiftenden Charakter des Projekts. Die Jury beschreibt das Gebäude als Haus ohne Rückseite, das sich nach allen Seiten einladend zur Gemeinde öffnet. Zusammen mit der benachbarten Schule, dem vorgelagerten Festplatz und dem Feuerwehrhaus bildet die Halle das Zentrum des Ortes.

DGNB Präsident Amandus Samsøe Sattler würdigte das Projekt als Beispiel dafür, dass Architektur nicht laut sein muss, um wirksam zu sein. Die Mehrzweckhalle verbinde technologische Innovation mit gesellschaftlicher Relevanz und schaffe einen Ort, der Menschen stärke und Ressourcen schütze. Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, ergänzte, dass es dem Architekturbüro gelinge, dem Konzept des Weiterbauens ein überzeugendes Gesicht zu geben.

Ein posthumer Erfolg

Der Preis hat auch eine melancholische Dimension. Guobin Shen, Mitgründer des Büros und maßgeblich am Projekt beteiligt, verstarb im Mai 2024 im Alter von nur 40 Jahren bei einem Kletterunfall. Der 1984 in Zhejiang geborene Architekt hatte 2017 gemeinsam mit seinem Studienfreund Florian Kaiser das Atelier Kaiser Shen gegründet. Ihre Philosophie des Weiterbauens, des Schaffens unfertiger Häuser, die von den Nutzenden weitergeschrieben werden können, prägte auch dieses Projekt. Die Auszeichnung in Bonn ist somit auch eine posthume Würdigung seines Schaffens.

Vorbild für eine Transformation

Deutschland verfügt über Tausende ähnlicher Mehrzweckhallen aus den Nachkriegsjahrzehnten, die vor vergleichbaren Entscheidungen stehen. Die Mehrzweckhalle Ingerkingen zeigt, dass Sanierung und Erweiterung nicht nur ökologisch sinnvoller, sondern auch wirtschaftlich günstiger sein können als ein Neubau. Die Jury hob hervor, dass das Projekt zu einem Vorbild für ähnliche Sanierungsaufgaben in ganz Deutschland werden könnte.

Dass der Preis erstmals im Rahmen des neuen Forums Nachhaltige Architektur verliehen wurde, unterstreicht den programmatischen Anspruch. Die DGNB und die Architektenkammer Nordrhein Westfalen wollen mit diesem Format gezielt Planende erreichen, die Nachhaltigkeit und Klimaschutz konsequent umsetzen möchten. Das Siegerprojekt aus dem oberschwäbischen Ingerkingen liefert dafür die beste Blaupause: unaufgeregt, präzise und zutiefst menschlich.