
EU-Gebäuderichtlinie: Paradigmenwechsel für Architekten und Ingenieure
Die novellierte EPBD stellt Planerinnen und Planer vor immense Herausforderungen – und eröffnet gleichzeitig enorme Chancen für die Transformation des Berufsfeldes
Die EU-Gebäuderichtlinie (Energy Performance of Buildings Directive – EPBD) ist mehr als eine weitere Regulierung aus Brüssel. Sie markiert einen fundamentalen Wendepunkt für die Architektur- und Ingenieurbranche. Mit ihrer Veröffentlichung im Mai 2024 und der vorgeschriebenen Umsetzung bis Ende Mai 2026 steht Deutschland vor der größten berufspolitischen Herausforderung seit Einführung der Energieeinsparverordnung. Was bedeutet dies konkret für die planenden Berufe?
Vom Neubau zur Sanierung: Der erzwungene Fokuspunkt
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Europaweit müssen rund 40 Millionen Gebäude, in Deutschland allein drei Millionen, bis spätestens 2033 auf ein energetisches Mindestniveau gehoben werden. Diese beispiellose Sanierungswelle wird das Berufsbild von Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren nachhaltig verändern. Die Bundesarchitektenkammer (BAK) hat diesen Paradigmenwechsel frühzeitig erkannt und den Überarbeitungsprozess der Richtlinie eng begleitet.
Andrea Gebhard, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, bringt es auf den Punkt: „Jetzt geht es darum, in die Zukunft zu schauen und das Zusammendenken von sinnvoller energetischer Gebäudesanierung und Quartier voranzutreiben. Es ist unrealistisch, alle Gebäude zu dämmen, daher müssen wir uns vor allem um die Gebäude kümmern, die einen echten Impact leisten können.”
Das „Worst-First-Prinzip” als berufspolitische Chance
Die EPBD führt mit dem „Worst-First-Prinzip” eine völlig neue Herangehensweise ein. Nichtwohngebäude müssen bis 2030 die ineffizientesten 16 Prozent und bis 2033 die ineffizientesten 26 Prozent saniert werden. Für Wohngebäude gelten zwar keine gebäudespezifischen Mindestvorgaben, doch müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Energieverbrauch des Wohngebäudebestands bis 2030 um 16 Prozent und bis 2035 um 20 bis 22 Prozent sinkt – wobei mindestens 55 Prozent der Einsparungen durch Renovierung der energetisch schlechtesten Gebäude erreicht werden müssen.
Diese Systematik eröffnet planenden Berufen neue Geschäftsfelder. Die Bewertung, Klassifizierung und Priorisierung von Sanierungsmaßnahmen wird zur Kernkompetenz. Architekten und Ingenieure werden zu Transformationsmanagern des Gebäudebestands.
Qualifikation als Schlüssel: Der Renovierungspass
Mit der Einführung des Gebäuderenovierungspasses entsteht ein neues Instrument, das nur von qualifizierten oder zertifizierten Fachleuten nach einer Vor-Ort-Besichtigung erstellt werden darf. Dieser Pass soll detaillierte Sanierungsfahrpläne enthalten und über technische Lösungen sowie verfügbare Fördermöglichkeiten informieren. In Deutschland decken die individuellen Sanierungsfahrpläne (iSFP) bereits viele Anforderungen ab, müssen aber um digitale Tools erweitert werden.
Für die Berufsstände bedeutet dies: Zusatzqualifikationen werden unerlässlich. Die Kammern sind gefordert, entsprechende Fortbildungsangebote zu entwickeln und Standards zu setzen. Die Architektenkammer Sachsen-Anhalt hat bereits reagiert und informiert ihre Mitglieder über die vier wesentlichen Eckpunkte der neuen Richtlinie.
Lebenszyklusbetrachtung: Von der Planung zur Gesamtverantwortung
Ein Paradigmenwechsel zeigt sich auch in der verpflichtenden Berechnung des Treibhauspotenzials über den gesamten Lebenszyklus neuer Gebäude. Ab 2028 gilt dies für alle neuen Gebäude mit einer Nutzfläche über 1.000 Quadratmeter, ab 2030 für alle Neubauten. Diese Lebenszyklusbetrachtung erweitert die Verantwortung der Planerinnen und Planer erheblich – von der Materialwahl über die Bauausführung bis zum späteren Rückbau.
Die BAK sieht darin eine wichtige Weichenstellung: „Der Indikator, der den Gesamtbeitrag des Gebäudes zu den klimawirksamen Emissionen angibt, ist ein erster Schritt zu einer stärkeren Berücksichtigung der gesamten Lebenszyklusleistung von Gebäuden und einer Kreislaufwirtschaft.”
Technologiesprung: Gebäudeautomation als Pflichtaufgabe
Die EPBD setzt klare Fristen für die Gebäudeautomation: Nichtwohngebäude mit Heizungs- oder Klimaanlagen über 290 kW müssen bereits bis Ende 2024 nachgerüstet werden. Dieser Schwellenwert sinkt Ende 2029 auf 70 kW. Für Planerinnen und Planer bedeutet dies, sich intensiv mit intelligenten Gebäudetechnologien auseinanderzusetzen. Der „Smart Readiness Indicator” wird ab 2026 für große Nichtwohngebäude gestärkt.
Verbandspolitik: Zwischen Chance und Kritik
Die Bundesarchitektenkammer begrüßt die Novellierung grundsätzlich als „gute Rahmenrichtlinie”, kritisiert aber mangelnde Klarheit bei den Energieausweisen. Die fehlende Vergleichbarkeit der Berechnungsmethoden zwischen den Mitgliedstaaten untergräbt das ursprüngliche Ziel einer größeren Transparenz. „Wir hätten uns mehr Klarheit und Vergleichbarkeit bei Berechnungsmethoden gewünscht”, betont die BAK.
Die Kammern fordern zudem, dass Energieausweise einen Abgleich der berechneten Leistung mit Bestands- und Betriebsdaten vorschreiben sollten. Nur so könnten sie zu aussagekräftigen Indikatoren für wahrscheinliche Energie- und Kohlenstoffeinsparungen werden.
Marktentwicklung: Vom Kostenfaktor zum Werttreiber
Die energetische Sanierung wird vom lästigen Kostenfaktor zum entscheidenden Werttreiber. Gebäude ohne entsprechende energetische Standards werden mittelfristig unverkäuflich oder unvermietbar. Dies schafft einen enormen Beratungsbedarf, den qualifizierte Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieure decken müssen.
Die Richtlinie betont dabei explizit den sozialen Aspekt: Finanzielle Anreize sollen vorrangig schutzbedürftige Haushalte unterstützen, Zwangsräumungen im Zusammenhang mit Renovierungen vermieden werden. Hier entsteht ein neues Aufgabenfeld für sozialverträgliche Sanierungskonzepte.
Nationale Umsetzung: Der Ball liegt bei Katherina Reiche
Die Umsetzung der EU-Gebäuderichtlinie trifft auf eine komplexe politische Gemengelage. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche kündigte an, vermeintliche Technologieverbote im Gebäudeenergiegesetz abschaffen zu wollen. Dies klingt nach Rückschritt statt Fortschritt. Die Verbände müssen hier klare Position beziehen.
Der Gebäuderenovierungsplan, dessen erster Entwurf bis Ende 2025 vorliegen muss, wird zum zentralen Steuerungsinstrument. Die für November angesetzte Öffentlichkeitsbeteiligung bietet den Kammern die Chance, ihre Expertise einzubringen und die Interessen der planenden Berufe zu vertreten.
Ausblick: Transformation als Berufschance
Die EU-Gebäuderichtlinie ist mehr als eine regulatorische Herausforderung – sie ist eine historische Chance für die planenden Berufe. Der Sanierungsstau im Gebäudebestand garantiert Architektinnen und Architekten sowie Ingenieurinnen und Ingenieuren auf Jahrzehnte hinaus Aufträge. Gleichzeitig erfordert die Komplexität der Aufgaben neue Kooperationsformen und interdisziplinäre Ansätze.
Die Kammern stehen vor der Aufgabe, ihre Mitglieder auf diese Transformation vorzubereiten. Fort- und Weiterbildung, Qualitätssicherung und politische Interessenvertretung werden wichtiger denn je. Wer sich jetzt positioniert und qualifiziert, wird von der größten Sanierungswelle der Geschichte profitieren. Die EU-Gebäuderichtlinie markiert nicht das Ende einer Ära, sondern den Beginn einer neuen Epoche für die planenden Berufe.

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