Baukunst - Die stille Revolte eines Architekten: Keisuke Okas gebauter Widerspruch
Arimaston Building von Keisuke Oka ©Sankei by Yuta Yasumoto

Die stille Revolte eines Architekten: Keisuke Okas gebauter Widerspruch

20.04.2025
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Claudia Grimm

Der lange Atem des Betons

Keisuke Okas Arimaston Building: Ein Manifest für das architektonische Handwerk

In einer Stadt, die für Geschwindigkeit, Effizienz und ständigen Wandel steht, wirkt das Arimaston Building wie ein Paradoxon aus Beton. Mitten in Tokio erhebt sich ein Bauwerk, das in einem Tempo entstand, das dem Geist der Metropole diametral entgegensteht. Der Architekt Keisuke Oka hat dieses Gebäude über einen Zeitraum von fast 20 Jahren weitgehend allein errichtet – nicht als spektakuläres Großprojekt, sondern als radikalen Gegenentwurf zur normierten Bauindustrie.

Architektur als tägliche Handlung

2005 begann Keisuke Oka auf einem schmalen Grundstück nahe der Mita Station mit dem Bau. Was sich zunächst wie ein Experiment anmutet, entpuppte sich als zutiefst ernsthaftes Projekt: Oka verzichtete auf schwere Maschinen, arbeitete mit simplen Werkzeugen und improvisierte täglich neu. Die klassische Bauzeichnung wurde durch das Prinzip des fortlaufenden Gestaltens ersetzt. Jeder Betonmischer, jede Verschalung, jedes Element ist Resultat einer Entscheidung im Moment – ein Prozess, der nicht zuletzt an den japanischen Butō-Tanz erinnert, der durch langsame, ausdrucksstarke Bewegungen geprägt ist. Das Resultat ist ein viergeschossiger Bau mit Unterkellerung, verteilt auf lediglich 40 Quadratmeter Grundfläche. Seine skulpturale Form, die organisch verdrehten Linien und die scheinbar willkürlichen Fensteröffnungen erinnern eher an ein Kunstobjekt als an ein konventionelles Wohn- oder Geschäftsgebäude.

Beton als Handschrift

Der verwendete Sichtbeton trägt die Spuren seines Entstehungsprozesses wie ein Palimpsest. Oka nutzte Alltagsgegenstände wie Essensschalen oder Pflanzen als Schalungselemente, deren Abdrücke feine Texturen in der Oberfläche hinterlassen. Diese Details erzählen von der materiellen Welt, in der sie entstanden sind, und verleihen dem Gebäude eine haptische Tiefe, die in der heutigen Architektur selten geworden ist. Manche Oberflächen sind rau, andere glatt wie ein gewaschener Kieselstein. Es ist ein Beton, der nicht versteckt, sondern erzählt – von der Mühe des Gießens, dem Rhythmus der Jahreszeiten, vom Regen, der auf noch feuchten Wänden trocknete.

Gaudí trifft Tokyo

Die Bewohnerinnen und Bewohner des Viertels sprechen gelegentlich vom „Gaudí von Mita“. Und tatsächlich erinnern manche Elemente an die expressive Formensprache des katalanischen Meisters. Doch anders als Gaudí, der mit Handwerkerinnen und Bauleuten ein großes Team formte, ist Oka ein Einzelkämpfer. Ihm geht es nicht um Prachtentfaltung, sondern um Beständigkeit – in der Geste, im Tun, im Stoff. Er selbst beschreibt sich lieber als Handwerker denn als Architekt. Sein Werk steht in bewusster Opposition zur industriellen Massenproduktion: gegen austauschbare Fassaden, gegen die Vorherrschaft der Rendite, gegen das Verschwinden der Individualität im urbanen Raum. Dabei ist das Arimaston Building keine nostalgische Reminiszenz an vergangene Zeiten, sondern ein künstlerischer Kommentar zur Gegenwart.

Umzug mit Methode

Fast ironisch mutet es an, dass dieses Monument der Unbeweglichkeit bald selbst mobil wird: Aufgrund einer städtebaulichen Umstrukturierung soll das Gebäude 2025 um rund zehn Meter versetzt werden. Möglich macht das die traditionelle japanische Hikiya-Methode, bei der Bauwerke mithilfe von Holzbalken, Schienen und Präzisionsarbeit in kleinen Etappen verschoben werden. Der geplante Umzug ist dabei nicht nur ein logistisches Meisterstück, sondern auch ein symbolischer Akt: Das Arimaston Building wird damit erneut zum Zeichen für die Widerständigkeit architektonischer Visionen – auch gegenüber den Kräften der Stadtentwicklung.

Bauen als Haltung

Oka wuchs in einfachen Verhältnissen auf, wo Eigeninitiative und Improvisation zum Alltag gehörten. Diese biografische Prägung wurde zur Grundlage einer Architektur, die auf Geduld, Hingabe und handwerklichem Können beruht. In einer Welt, in der Gebäude in Monaten entstehen und nach wenigen Jahrzehnten verschwinden, wirkt Okas Haltung fast anachronistisch – und gerade deshalb so aktuell.

Der ökologische Fußabdruck seiner Bauweise ist minimal, die Lebensdauer maximal: Durch eine spezielle Betonmischung mit reduziertem Wasseranteil wird die Haltbarkeit des Gebäudes auf etwa 200 Jahre geschätzt – eine architektonische Antwort auf die Wegwerfmentalität unserer Zeit.

Zwischen Skulptur und Stadt

Trotz – oder gerade wegen – seiner Andersartigkeit fügt sich das Arimaston Building in das Stadtbild ein. Es ignoriert nicht die Umgebung, sondern antwortet auf sie – mit Eigensinn, aber ohne Arroganz. Das Erdgeschoss ist als Gewerbefläche vorgesehen, die oberen Stockwerke dienen Oka als Wohnraum. So bleibt das Haus nicht bloße Utopie, sondern wird Teil der urbanen Realität. Vergleiche mit den Welten von Studio Ghibli oder expressionistischen Fantasien sind nachvollziehbar, aber greifen zu kurz. Denn das Arimaston Building ist kein Märchenschloss, sondern ein gebautes Argument – für die Wiederentdeckung des Handwerks, für das Denken in Langsamkeit, für das Haus als Ausdruck der Person, die es bewohnt.

Schlussgedanke

In einer Zeit, in der Städte sich im Sekundentakt verändern und Gebäude wie Softwareversionen ständig ersetzt werden, wirkt das Arimaston Building wie ein aufrührerischer Gedanke in Beton gegossen. Es ist ein Appell an die Baukunst, sich nicht nur am Zweck zu orientieren, sondern auch am Prozess. Es fragt: Was wäre, wenn Architektur wieder als etwas betrachtet würde, das wachsen darf – langsam, organisch, unperfekt, aber bedeutungsvoll?