
Bauen für den Tag danach: Wie ukrainische Studenten den Wiederaufbau planen
| Dezember 2025 | Lesezeit: ca. 8 Minuten
Am 24. Februar 2022 änderte sich alles. Während russische Raketen auf ukrainische Städte fielen, standen Architekturstudierende und ihre Dozentinnen vor einer existenziellen Frage: Weitermachen oder fliehen? Die Antwort, die viele ukrainische Architekturschulen fanden, ist bemerkenswert. Sie entschieden sich für beides.
Die Flucht nach Westen
Die Kharkiv School of Architecture (KhSA), 2017 als erste private Architekturhochschule der Ukraine gegründet, musste innerhalb weniger Stunden evakuieren. Mitgründer Oleg Drozdov erinnert sich an den Moment: Die Explosionen waren deutlich zu hören, der Verkehr in der Stadt kam zum Erliegen, Menschen flohen in Panik. Drei Wochen später nahm die Schule ihren Betrieb wieder auf, allerdings nicht mehr in Charkiw, sondern 1.000 Kilometer westlich in Lwiw.
Die Entscheidung, im Land zu bleiben, war bewusst gewählt. Iryna Matsevko, stellvertretende Rektorin der KhSA, betont: Die Schule wollte ein deutliches Zeichen setzen. In einer Zeit, in der ukrainische Fachkräfte in ganz Europa Jobangebote erhielten, hätte eine Abwanderung des akademischen Personals fatale Folgen für den künftigen Wiederaufbau gehabt. Der Begriff der “professionellen Kolonisierung” fiel in diesem Zusammenhang, eine Warnung vor dem schleichenden Verlust ukrainischer Expertise an westliche Institutionen.
Zwischen Bunker und Hörsaal
Die Zahlen sind erschütternd: Laut dem Kyiv School of Economics Institute wurden bis November 2024 insgesamt 97 Universitäten beschädigt oder zerstört. Die Gesamtschäden an Bildungseinrichtungen belaufen sich auf über 13 Milliarden Dollar. Mehr als 4.000 Bildungseinrichtungen aller Art haben Kriegsschäden erlitten. Die staatlichen Bildungsausgaben der Ukraine sanken zwischen 2021 und 2024 von 17 auf nur noch sieben Prozent des Staatshaushalts.
Für die Studierenden bedeutet dies einen permanenten Ausnahmezustand. An der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kiew (KNEU) entscheidet Rektor Dmytro Lukianenko täglich aufs Neue, ob der Präsenzunterricht stattfinden kann. Sobald Luftalarm ertönt, müssen die Vorlesungen unterbrochen werden. Die Studierenden begeben sich in Kellerräume oder nahegelegene U-Bahn-Stationen. Ähnlich verhält es sich an der Kiewer Nationalen Universität für Bauwesen und Architektur (KNUCA), deren Rektor Oleksii Dniprov vor allem die Transparenz der Zulassungsverfahren unter diesen Bedingungen als Herausforderung benennt.
Neue Curricula für eine zerstörte Welt
Die Architekturausbildung in der Ukraine hat sich fundamental gewandelt. Die KhSA passte ihr Curriculum an die neue Realität an: Kurse über Post-Konflikt-Städte, urbane Resilienz und den Umgang mit kriegszerstörter Bausubstanz ergänzen nun das Programm. Die Schule versteht sich als Denkfabrik für den Wiederaufbau, ein Selbstverständnis, das über die reine Ausbildung hinausgeht.
Oleg Drozdov weist auf einen oft übersehenen Aspekt hin: Die Integration barrierefreien Bauens wird künftig eine zentrale Rolle spielen müssen. Tausende Kriegsversehrte werden Gebäude benötigen, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Dies sei nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische Frage, denn die angestrebte EU-Mitgliedschaft verlange die Einhaltung demokratischer Standards, zu denen auch der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Räumen gehöre.
Internationale Solidarität mit Grenzen
Die europäische Hochschullandschaft reagierte mit beispielloser Unterstützung. Die Coventry University unterzeichnete eine Absichtserklärung mit der KNUCA, um gemeinsame Studienprogramme zu entwickeln. Die European Association for Architectural Education (EAAE) koordiniert Austauschprogramme von Helsinki bis Lissabon. Die Aalto University in Finnland, die Technische Universität Budapest und das Politecnico di Torino öffneten ihre Türen für geflüchtete Architekturstudierende.
Doch diese Hilfsbereitschaft birgt ein Dilemma. Jede Studentin, jeder Student, der ins Ausland geht, fehlt beim künftigen Wiederaufbau. Die EU stellte zwischen 2023 und 2024 zwar 100 Millionen Euro für Bildungspartnerschaften bereit, doch die langfristige Bindung des Nachwuchses an die Ukraine bleibt eine Herausforderung. Männliche Studierende zwischen 18 und 22 Jahren dürfen zwar seit April 2024 an Auslandsaufenthalten teilnehmen, ältere Studenten unterliegen jedoch den Mobilitätsbeschränkungen des Kriegsrechts.
Schulen der Zukunft
Ein bemerkenswertes Projekt verdeutlicht den Wandel im architektonischen Denken: Der internationale Wettbewerb “Future School for Ukraine” suchte 2024 nach adaptiven Schulentwürfen, die Schutzräume, Gemeinschaftsfunktionen und psychologische Rehabilitation integrieren. Das Gewinnerprojekt des italienischen Büros Scandurra Studio Architettura in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Architekten Mykhailo Vustyansky verkörpert die Prinzipien des New European Bauhaus: Nachhaltigkeit, Inklusion und menschenzentrierte Ästhetik.
Die modulare Struktur ermöglicht Anpassungen an unterschiedliche Kontexte, von städtischen über ländliche bis hin zu stark kriegsgeschädigten Gebieten. Mehr als 3.000 Schulgebäude in der Ukraine wurden beschädigt oder zerstört, ein Drittel der Schülerinnen und Schüler hat nur noch Zugang zu Fernunterricht. Die “Future School” ist keine Utopie, sondern eine drängende Notwendigkeit.
Lehren aus der Krise
Was lässt sich aus der ukrainischen Erfahrung lernen? Erstens: Architekturausbildung ist keine Luxusangelegenheit, die bei Krisen pausieren kann. Sie ist Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur und Voraussetzung für jeden Wiederaufbau. Zweitens: Die Dezentralisierung von Wissen, wie sie die KhSA durch ihre Wanderschaft praktiziert, kann ein Modell für Resilienz sein. Drittens: Internationale Kooperation muss so gestaltet werden, dass sie lokale Kapazitäten stärkt, nicht absaugt.
Die achtzehnjährige Maria Ponomariova, Journalismus-Studentin an der KNEU, bringt es auf den Punkt: Das Weiterstudieren schafft Chancen für die Zukunft. Und allein schon deshalb, weil man verrückt wird, wenn man immer nur an den Krieg denkt. In diesem Satz steckt mehr Weisheit als in manchem akademischen Traktat über Krisenbewältigung.
Die ukrainische Architekturausbildung wird nach dem Krieg nicht dieselbe sein wie zuvor. Sie wird geprägt sein von der Erfahrung des Verlustes, aber auch von einer neuen Ernsthaftigkeit. Die Studierenden, die heute in Lwiwer Kellern und Kiewer U-Bahn-Stationen ihre Entwürfe zeichnen, werden die Architektinnen und Architekten sein, die ihr Land wieder aufbauen. Sie haben bereits bewiesen, dass sie unter unmöglichen Bedingungen Außergewöhnliches leisten können.

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