Baukunst - Geheime Kasernenrückkehr: Wie das Verteidigungsministerium die Wohnungskrise ignoriert
200 Kasernengelände werden der zivilen Nutzung entzogen. © Depositphotos_22778048_S

Geheime Kasernenrückkehr: Wie das Verteidigungsministerium die Wohnungskrise ignoriert

24.11.2025
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Ignatz Wrobel

SICHERHEIT STATT STADTENTWICKLUNG: Der Umwandlungsstopp und die verlorenen Chancen für urbanes Wohnen

Die Geschichte der Kasernenumwandlung in Deutschland ist eine Geschichte von Hoffnung und pragmatischem Umdenken. Nach dem Fall der Berliner Mauer und besonders nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 begannen Hunderte von Städten und Gemeinden, die frei werdenden Militärareale für zivile Zwecke neu zu denken. Diese Konversionsflächen waren wertvoll: oft innenstadtnah, von erheblicher Größe und mit bereits vorhandener infrastruktureller Erschließung. Gütersloh, Bielefeld, Kiel, Münster und unzählige weitere Kommunen entwickelten detaillierte Pläne zur Umgestaltung dieser Gelände in moderne Stadtquartiere, Wohngebiete und Arbeitsplatzcluster.

Die Mansergh-Kaserne in Gütersloh verkörpert diesen Wandel exemplarisch: Über 30 Hektar innenstadtnah gelegene Fläche, die von verschiedenen Einheiten der britischen Streitkräfte bis 2019 genutzt wurde. Der Rat der Stadt beschloss bereits im Sommer ein Vorkaufsrecht für dieses Gelände. Planungsabteilungen skizzierten Visionen eines gemischten Quartiers mit Wohnungen, Büros und öffentlichen Grünräumen. Investoren wurden gesucht, Gespräche mit Entwicklern geführt. Die Hoffnung war greifbar, die Verwirklichung schien nah.

Dann kam der Umbruch. Ende Oktober 2025 verkündete das Bundesministerium der Verteidigung die Entscheidung: Moratorium. Der Prozess der Konversion, begonnen in den frühen 1990ern, wird angehalten. Nicht vorübergehend, sondern auf unbestimmte Zeit.

Die Zahlen und die Betroffenen

200 Liegenschaften stehen nun unter neuem Vorbehalt: 187 bereits aufgegebene Konversionsflächen im Besitz der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA) und 13 noch betriebene Standorte. In Nordrhein-Westfalen allein betrifft dies 38 Flächen. Die Größenordnung des Umbruchs wird deutlich, wenn man sich die konkreten Auswirkungen vor Augen führt: Bielefeld wollte auf der Rochdale-Kaserne, erst 2020 von den Briten aufgegeben, rund 650 Wohnungen errichten. Paderborn rechnete mit neuen Stadtquartieren auf dem Gelände der Dempsey-Kaserne. Kiel verabschiedete Bebauungspläne für Konversionsflächen, die einen Anteil von Sozialwohnungen deutlich über dem städtischen Standard vorsahen. Münster hatte seit 2018 auf den Oxford- und York-Kasernen bereits 3.100 Wohnungen realisiert, davon etwa 640 Sozialwohnungen.

Christian Schuchardt, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetags, bringt die Herausforderung auf den Punkt: “Der Umwandlungsstopp ist für betroffene Kommunen eine riesige Herausforderung. In vielen Städten sind die Planungen schon weit fortgeschritten und es sind Kosten angefallen und Verträge unterschrieben für die zivile Nutzung.”

Die finanzielle Belastung ist erheblich. Städte haben bereits Mittel investiert, Planungsprozesse durchlaufen, Stadtentwicklungskonzepte mit Bürgerbeteiligung erarbeitet. Verträge wurden unterzeichnet. Jetzt liegen diese Pläne auf Eis. Nicht definitiv verworfen, aber auch nicht realisierbar. Ein lähmender Zustand.

Geopolitik gegen Wohnraum: Die Logik der Zeitenwende

Hinter der Entscheidung steht die sogenannte Zeitenwende. Der Kriegsausbruch in der Ukraine, die Neubewertung der Sicherheitslage, der Aufwuchs der Bundeswehr zur “stärksten Armee Europas” (so die Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz). Der Operationsplan Deutschland sieht große Verlegungen von NATO-Truppen von West nach Ost vor. Nordrhein-Westfalen spielt dabei eine zentrale Rolle, seine geografische Position im Herzen Europas macht es strategisch relevant. Logistikzentren sind notwendig. Kasernenflächen sind erforderlich.

Das Verteidigungsministerium argumentiert nachvollziehbar: Eine verkleinerte Bundeswehr, die kaum noch Infrastruktur benötigte, ist ein Relikt einer anderen Ära. In der aktuellen Bedrohungslage können sich die Streitkräfte diese Luxusposition nicht leisten. Aus der realpolitischen Perspektive ist die Entscheidung rational.

Und dennoch: Sie verdrängt eine andere, ebenso dringende Realität. Deutschland hat ein massives Wohnungsproblem. Die Zahlen sind bekannt, fast schon abgedroschen in ihrer Wiederholung: Ein gigantisches Defizit an bezahlbarem Wohnraum. Besonders dramatisch ist die Situation in mittleren Großstädten wie Gütersloh, Bielefeld oder Kiel, wo die Flächenknappheit ein zentales Planungsproblem darstellt. Generationen von Arbeitern und Angestellten können sich in ihren eigenen Städten kein Haus mehr leisten.

Die partizipative Dimension und das Vertrauen

Noch ein zweiter Aspekt verdient Aufmerksamkeit: der partizipative. Viele dieser Konversionsprojekte waren nicht Top-down durchgesetzt worden. Bürgerbeteiligungsprozesse waren in Kiel durchgeführt worden, wo das “Bündnis für bezahlbaren Wohnraum” eine zentrale Rolle spielte. Stadtplanerrinnen und Stadtplaner hatten mit Nachbarschaften geklärt, welche Nutzungen gewünscht sind. Die Demokratie wurde gelebt. Jetzt wird diese Mitsprache schlicht umgangen durch eine zentralstaatliche Entscheidung ohne vorherige Kommunikation mit den betroffenen Städten.

Der Deutscher Städtetag beklagt, dass viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister erst durch Medienberichte von der Entscheidung erfuhren. Gerd Landsberg, Ehrengeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindetags, formuliert das Kernproblem: “Viele Kommunen sind in die Entscheidung offenbar nicht frühzeitig genug einbezogen worden.” Er weist auch auf das Vertrauensdefizit hin: “Die Städte und Gemeinden waren und sind verlässliche Partner der Bundeswehr. Dieses gewachsene Vertrauensverhältnis sollte auch jetzt Bestand haben.”

Verlässlichkeit und Transparenz sind Fundamente guter Governance. Sie sind gefährdet.

Konversionen, die funktioniert haben: Dortmund als Gegenbeispiel

Um die Verluste besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf erfolgreiche Konversionsprojekte. Dortmund zeigt, was möglich ist. Dort wurden Kasernengebäude an der Bundesstraße 1 abgerissen, um das Quartier “Stadtkrone Ost” zu errichten. Neue Gebäude entstanden, die Reihenhäuser, ursprünglich für britische Offiziere gebaut, wurden saniert und an deutsche Familien verkauft. Ein funktionierendes Modell der Umnutzung, der Sanierung, der Wiederbelebung.

Solche Projekte sind nicht nur immobilienpolitisch relevant. Sie sind urbane Texte, die von Transformation erzählen, von der Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Räume neu zu interpretieren. Sie vermögen Geschichte zu bewahren, während sie gleichzeitig gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechen. Die Konversion ist nicht bloß ein ökonomisches oder administratives Phänomen. Sie ist ein Statement über Werte: über die Fähigkeit, den Aufbau zu priorisieren gegenüber dem Wehrhaften.

Dialog oder Deadlock?

Das Bundesverteidigungsministerium versucht, Besänftigung anzudeuten. Staatssekretär Nils Hilmer betont: “Wo immer dies möglich ist, werden wir versuchen, auch bestehende zivile Planungen zu berücksichtigen.” Es werden Dialoge angekündigt, Lösungen versprochen, die Sicherheit und kommunale Interessen vereinbaren sollen.

Die Skepsis ist berechtigt. Was sollen gemeinsame Lösungen bedeuten, wenn die Voraussetzung bereits getroffen ist? Welcher Handlungsspielraum bleibt, wenn die Bundeswehr die Flächen unter Vorbehalt gestellt hat? Wie können Partizipationsprozesse verlaufen, wenn das Ergebnis schon weitgehend determiniert ist?

Das Risiko ist real: Aus Dialog wird Kosmetik. Aus Partizipation wird Beschämung. Schon melden sich verschiedene Stimmen zu Wort: Strukturschwache Regionen, wo Wohnraumprobleme weniger akut sind, signalisieren Verständnis oder sogar Erleichterung. Denn die Bundeswehr bringt auch Wohlstand: Bauaufträge, Beschäftigung, Wirtschaftstätigkeit. Für diese Städte ist die Rückkehr des Militärs womöglich willkommen.

Andere, wie Kiel, sind verzweifelt. Dort wurde bereits protestiert. Das “Bündnis für bezahlbaren Wohnraum” mobilisierte 200 Menschen zu einer Demonstration. Die Botschaft war klar: “Wir brauchen dringend eine Zeitenwende für bezahlbaren Wohnraum!”

Umdenken, nicht Resignation

Die Architektur und Stadtplanung steht an einem Kreuzweg. Die klassische Modernisierungserzählung der Stadtentwicklung basierte auf der Hoffnung, dass öffentliche Investitionen und längerfristige Planung zu lebenswerten urbanen Räumen führen. Der Umwandlungsstopp stellt diesen Anspruch in Frage. Nicht wegen schlechter Architektur oder schlechter Planung, sondern wegen einer Neupriorisierung: Sicherheit vor Wohnen. Militär vor Stadt.

Ob diese Hierarchie gerechtfertigt ist, lässt sich rational diskutieren. Was indes kritisch zu bewerten ist, ist die Art, in der sie durchgesetzt wird: undemokratisch, intransparent und mit minimaler Vorwarnung.

Der Weg aus diesem Dilemma ist nicht Resignation. Er liegt in einer differenzierten Betrachtung: Welche dieser 200 Liegenschaften sind wirklich strategisch essentiell? Welche könnten, mit technischen oder organisatorischen Kompromissen, für zivile Nutzung frei werden? Welche Modelle hybride Nutzungen ermöglichen (Wohnungen für Militärangestellte, zivile Nutzungen neben militärischen)?

Der Dialog muss äecht sein, nicht Theateraufführung. Die Kommunen müssen zeitnah wissen, welche Flächen endgültig reserviert sind und welche mit Zeit wieder verfügbar werden könnten. Transparenz, Plan und Vertrauen statt Lähmung.

Die Konversion als Instrument der Stadtentwicklung ist nicht gescheitert. Sie wurde pausiert. Das ist eine politische Entscheidung. Auch politische Entscheidungen können revidiert oder differenziert werden.