Baukunst - GESTALTUNGSPREIS ALS KATALYSATOR FÜR ARCHITEKTURELLE BILDUNG
Die stille Kraft eines Wettbewerbs

Gestaltungspreis als Katalysator für Architektuelle Bildung

24.11.2025
 / 
 / 
Stuart Rupert

Die stille Kraft eines Wettbewerbs

Der Gestaltungspreis der Wüstenrot Stiftung ist eines der am wenigsten beachteten, aber einflussreichsten Instrumente der Architekturvermittlung im deutschsprachigen Raum. Alle zwei Jahre, mit wechselnden Themenschwerpunkten, bewirbt sich eine bunte Mischung aus etablierten Büros, Nachwuchsteams und Bürogemeinschaften um eine der begehrten Auszeichnungen. Die Preissumme von 50.000 bis 60.000 Euro ist großzügig, doch der eigentliche Wert liegt woanders: in der Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen.

Betrachtet man die Geschichte des Preises, wird dies unmittelbar klar. 2002 stand das Thema “Schulen in Deutschland” auf der Tagesordnung. 2004 folgte “Bauen für Kinder”. 2006 interessierte sich die Stiftung für “Umbau im Bestand”. Später dann “Energieeffiziente Architektur”, “Baukultur”, “Das zukunftsfähige Einfamilienhaus” und im jüngsten Durchgang “Lücken füllen: Wohnraum schaffen”. Diese Themenauswahl ist nicht willkürlich, sondern reflektiert präzise die aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaft.

Bildungsinnovation durch Auseinandersetzung

Was macht diesen Wettbewerb für die Nachwuchsausbildung so wertvoll? Das liegt an der Art, wie die Wüstenrot Stiftung arbeitet. Sie versteht den Gestaltungspreis nicht als bloße Auszeichnungszeremonie, sondern als kurationiertes Lernprogramm. Die Themenauswahl zwingt sich bewerbende Architekturteams dazu, konsequent über ihre Einzelprojekte hinauszudenken und gesellschaftliche Verantwortung zu artikulieren.

Junge Architektinnen und Architekten, die zum ersten Mal an einem solchen Wettbewerb teilnehmen, erleben eine Erkenntnis: Es geht nicht nur um Aesthetik. Es geht um räumliche Gerechtigkeit, um Klimafragen, um Bezahlbarkeit, um Partizipation. Ein sorgfältig recherchierter Wettbewerbsbeitrag lehrt mehr über reale Architektur als ein halbes Semester an der Hochschule. Die Anforderung, sich mit 400 oder mehr konkurrierenden Projekten messen zu müssen, schärft den Blick für das Wesentliche.

Die Jury als Lehrmeisterin

Ein weiterer, oft übersehener pädagogischer Aspekt ist die Zusammensetzung der Jury. Die Wüstenrot Stiftung besetzt ihre Jurys interdisziplinär und sorgfältig. Es sitzen nicht nur Architektinnen und Architekten im Präsidium, sondern Soziologen, Architekturhistorikerinnen, Stadtplaner und Vertreter von Denkmalamt und Kulturinstitutionen. Diese heterogene Expertise ist selbst schon ein Lernspiel.

Wenn die Jury über die eingereichten Projekte deliberiert, werden implizit verschiedene Bewertungsmaßstäbe transparent gemacht. Was macht gute Architektur aus? Wie entsteht Qualität im Wohnungsbau? Welche Rolle spielt Partizipation bei Schulbauten? Junge Architektinnen und Architekten, die ihre Arbeiten einreichen, können später aus den Publikationen und Wanderausstellungen rekonstruieren, nach welchen Kriterien entschieden wurde. Das ist informelles, aber enormwirksames Mentoring.

Nachwuchsförderung durch Sichtbarkeit

Die Wanderausstellung ist ein entscheidender Punkt. Im Gegensatz zu reinen digitalen Präsentationen nimmt die Stiftung die Mühe auf sich, die Arbeiten physisch zu zeigen. Das bedeutet: Wenn ein junges Büro den Preis gewinnt, wird es nicht nur in Fachmedien besprochen, sondern seine Arbeit wandert durch deutsche, österreichische und Schweizer Städte. Architekturkammern, Universitäten und kulturelle Institutionen laden die Ausstellung ein.

Dies erzeugt eine Sichtbarkeitskaskade, die für junge Architektinnen und Architekten unbezahlbar ist. Ein Gewinn öffnet Türen. Ein Projekt in der Ausstellung führt zu Kontakten, zu Anfragen, zu neuen Aufträgen. Damit wird das Ökosystem der Architekturdebatte gestärkt: nicht durch Spekulation und Rendite, sondern durch bewiesene qualitative Exzellenz.

Kritische Anmerkungen zur Ausbildungswirksamkeit

Allerdings sollte man auch kritisch nachfragen: Wie transparent sind die Bewertungskriterien wirklich? Welche Bürostrukturen können sich überhaupt die Ressource leisten, um einen hochwertigen Wettbewerbsbeitrag zu erarbeiten? Wie kann sichergestellt werden, dass nicht nur die etablierte, gut finanzierte Mittelklasse profitiert, während gerade die Nachwuchsarchitekturinnen und Nachwuchsarchitekten aus weniger privilegierten Verhältnissen ausgeschlossen bleiben?

Auch ist zu beobachten: Der Gestaltungspreis arbeitet auf einem Qualitätsniveau, das für unerfahrene Bürogemeinschaften entmutigend wirken kann. Die Latte liegt extrem hoch. Das ist bewusst und berechtigt, aber es bedeutet auch, dass die pädagogische Wirkung selektiv bleibt. Sie erreicht vor allem diejenigen, die bereits gut ausgebildet sind und Zugang zu Netzwerken haben.

Ausblick: Gestaltungspreis als Klassenzimmer

Trotz dieser kritischen Punkte bleibt die zentrale Einsicht: Der Gestaltungspreis funktioniert als dezentralisiertes, nicht-akademisches Klassenzimmer. Er stellt immer wieder neu die Frage: Was ist gerade jetzt die brennendste architektonische Aufgabe? Wie können wir Lücken füllen, Schulen besser bauen, nachhaltiger wohnen, denkmalwürdige Substanz bewahren?

Diese Zirkulation von Fragen schafft Bildung. Sie erreicht die Praktiker und Praktikerinnen, die nicht primär in akademischen Kontexten lernen, sondern in der Auseinandersetzung mit echten Problemen. Der Gestaltungspreis ist insofern ein Modell für Bildungsinnovation in der Architektur, das weniger auf Theorie und mehr auf reflektierte Praxis setzt.

Für die kommende Generation, die ab 2026 erneut antreten wird, lohnt sich die intensive Auseinandersetzung mit diesem Format. Der Preis mag klein klingen gegen die großen Namen, die Stararchitektur und die Lehrstuhltraditionen. Tatsächlich ist er eines der ehrlichsten Lernveranstaltungen, die es gibt.