
Wohnen als Menschenrecht
Wien trifft Rom im österreichischen Pavillon
Ein Salzwasser-Pool in Venedig mag überraschen – im österreichischen Pavillon ist er politisches Statement. „Agency for a Better Living“ heißt das Konzept von Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito, das zwei gegensätzliche Welten aufeinanderprallen lässt: den geplanten sozialen Wohnbau Wiens und die improvisierte Selbstorganisation Roms.
„Wohnen betrifft uns alle“, betont das Kuratorinnen-Trio. „Die Frage nach leistbarem Wohnen ist in einer Zeit multipler globaler Krisen längst eine der dringlichsten internationalen Fragen geworden.“ Vizekanzler Andreas Babler unterstrich bei der Eröffnung die Brisanz des Themas: „Architektur kann und muss dazu beitragen, Städte zu Orten sozialer Gerechtigkeit zu machen, wo nicht nur eine privilegierte Minderheit, sondern alle Menschen Zugang zu anständigem, erschwinglichem und hochwertigem Wohnraum haben.“
Der Pavillon inszeniert vier „Wohn-Settings“: eine Open-Air-Empfangshalle, den erwähnten Salzwasser-Pool, ein Wohnzimmer für Filmprojektionen und ein Küchen-Laboratorium zur Herstellung neuer „Rezepte“ für ein besseres Leben. Das Setting soll „ein Rahmen für ein Ritual für alle sein: Ankommen, Abkühlen, Entspannen, Lernen und Teilen.“
Hundert Jahre Wiener Wohnbau
Wien gilt als Welthauptstadt des sozialen Wohnbaus. Über 220.000 Gemeindewohnungen beherbergen mehr als 500.000 Menschen – ein Viertel der Stadtbevölkerung. Das System funktioniert seit über hundert Jahren nach einem einfachen Prinzip: Die Stadt baut, vermietet günstig und sorgt für soziale Durchmischung.
„Mit der Geschichte des erfolgreichen staatlich bzw. stadtorganisierten Top-down-Modells“, beschreiben die Kuratorinnen das Wiener System. Es ist ein Erfolgsmodell, das internationale Beachtung findet. Während andere Metropolen unter explodierenden Mieten ächzen, bleibt Wien leistbar. Die Wartelisten sind lang, aber das System funktioniert.
Doch das Wiener Modell hat auch Schattenseiten. Die Bürokratie ist träge, individuelle Bedürfnisse kommen oft zu kurz, Innovation findet hauptsächlich bei Neubauten statt. Hier setzt der römische Gegenpol an: die „selbst organisierten Projekte der Zivilgesellschaft“, wie es im Ausstellungskonzept heißt.
Die Selbstorganisation von Rom
Rom erzählt eine andere Geschichte des Wohnens. Hier entstehen Siedlungen ohne Genehmigung, wachsen Häuser ohne Architekten, organisieren sich Gemeinschaften ohne staatliche Hilfe. Was in Wien undenkbar wäre, ist in Rom Alltag: Menschen nehmen ihr Recht auf Wohnen selbst in die Hand.
Die römischen Beispiele zeigen „improvised, often spontaneous architecture“, wie die Kuratorinnen schreiben. Es ist eine Architektur der Notwendigkeit, geboren aus der Unfähigkeit des Staates, bezahlbaren Wohnraum für alle zu schaffen. Doch aus der Not entstehen oft innovative Lösungen: flexible Grundrisse, gemeinschaftliche Räume, nachbarschaftliche Netzwerke.
Der Vergleich zwischen Wien und Rom ist bewusst provokant. „Die Gegenüberstellung dieser beiden Modelle – geplante, öffentliche Wohnarchitektur in Wien und improvisierte, oft spontane Architektur in Rom – regt den interdisziplinären Dialog an“, erklären die Kuratorinnen. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um verschiedene Wege zum gleichen Ziel: bezahlbares Wohnen für alle.
Lagos und die informelle Stadt
Noch radikaler wird die Selbstorganisation in Tosin Oshinowos „Alternative Urbanism: The Self-Organized Markets of Lagos“. Die nigerianische Architektin erhielt eine Special Mention für ihre filmische Untersuchung der informellen Märkte von Lagos – jenen chaotisch wirkenden, aber hocheffizienten Handelszentren, die das Rückgrat der westafrikanischen Metropole bilden.
„The dynamic informal urbanism of Lagos“ zeigt eine Stadt, die ohne Masterplan funktioniert. Märkte entstehen, wo sie gebraucht werden, Strukturen passen sich an, Gemeinschaften organisieren sich selbst. Es ist eine Urbanität des Überlebens, die westliche Planungsvorstellungen über den Haufen wirft.
Oshinowos Werk beleuchtet „adaptive reuse in African markets“ – die kreative Wiederverwertung von Räumen und Materialien. Was in Europa als illegal gelten würde, ist in Lagos Normalität: Menschen bauen, was sie brauchen, wo sie es brauchen. Die Märkte werden zu selbstregulierenden Organismen, die sich ständig wandeln und anpassen.
Irlands Experiment mit Bürgerbeteiligung
Einen anderen Weg der kollektiven Entscheidungsfindung zeigt Irlands Beitrag „Assembly“ von Cotter & Naessens Architects. Das Projekt reflektiert Irlands Citizens‘ Assembly – ein international anerkanntes Modell inklusiver demokratischer Teilhabe, bei dem zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über komplexe gesellschaftliche Fragen beraten.
„What kinds of spaces foster real connection? How can built environments support collective decision-making, openness, and care?“, fragen die Architekten. Der Pavillon wird zur multisensorischen Installation, die den Prozess des gemeinsamen Entscheidens räumlich erfahrbar macht. Stimmen, Rhythmen und Bewegungen verschmelzen zu einer Architektur der Partizipation.
Das irische Modell ist bemerkenswert: Statt Expertinnen und Politiker entscheiden Bürgerinnen und Bürger über Abtreibung, Klimawandel oder Verfassungsänderungen. Die Ergebnisse sind oft überraschend, meist aber durchdachter und nachhaltiger als traditionelle politische Prozesse. Architektur wird zur Bühne für Demokratie.
Taiwan und die Prekarität des Lebens
Noch düsterer blickt der taiwanesische Pavillon „NON-Belief: Intelligens of Precarity“ auf die Zukunft. Das National Taiwan Museum of Fine Arts thematisiert die „Intelligenz der Prekarität“ – die Fähigkeit, unter unsicheren Bedingungen zu überleben und zu gedeihen.
Taiwan kennt Prekarität aus eigener Erfahrung: politisch isoliert, ständig bedroht, abhängig von globalen Lieferketten. Diese Unsicherheit prägt auch das Wohnen: flexibel, temporär, anpassungsfähig. Der Pavillon zeigt, wie aus der Unsicherheit eine besondere Form der Resilienz entsteht.
Kanadas schwimmende Visionen
Poetischer wird es im kanadischen Pavillon mit „Picoplanktonics“ vom Living Room Collective. Das Projekt erkundet die Verbindung zwischen menschlichen Gemeinschaften und marinen Ökosystemen. Picoplankton – die kleinsten Meeresorganismen – werden zur Metapher für kollektive Intelligenz.
Die Kanadierinnen zeigen, wie winzige Organismen durch Zusammenarbeit ganze Ozeane prägen können. Die Übertragung auf menschliche Siedlungen ist offensichtlich: Auch kleine Aktionen können große Wirkungen entfalten, wenn sie koordiniert erfolgen. Gemeinschaftsgärten, Nachbarschaftsinitiativen, lokale Währungen – überall entstehen neue Formen des Zusammenlebens.
Die Herausforderung des demografischen Wandels
„Global temperatures rise while global populations fall“, konstatiert Carlo Ratti nüchtern. Diese doppelte Herausforderung – Klimawandel bei schrumpfender Bevölkerung – stellt traditionelle Urbanismusvorstellungen infrage. Während Städte in Afrika und Asien explodieren, schrumpfen sie in Europa und Ostasien.
Was bedeutet das für das Wohnen? Brauchen wir mehr Häuser oder weniger? Größere Wohnungen oder kleinere? Zentrale Planung oder dezentrale Selbstorganisation? Die Biennale 2025 gibt keine einfachen Antworten, aber sie zeigt die Bandbreite möglicher Lösungen.
Kollektive Intelligenz als Überlebensstrategie
Der „Speakers‘ Corner“ in den Corderie dell’Arsenale wird zum Symbol für den partizipativen Ansatz der Biennale. Hier diskutieren Architektinnen und Aktivisten, Forscherinnen und Praktikerinnen über die Zukunft des Wohnens. Das Publikum wird vom passiven Konsumenten zum aktiven Teilnehmer.
„Collective Intelligence“ – die dritte Säule von Rattis Konzept – meint mehr als nur Bürgerbeteiligung. Es geht um die Erkenntnis, dass komplexe Probleme nur durch das Zusammenspiel vieler Akteure gelöst werden können. Weder der Markt allein noch der Staat allein kann die Wohnungskrise bewältigen. Es braucht neue Formen der Kooperation.
Kritische Fragen zur Partizipation
Doch Partizipation ist kein Allheilmittel. Kritikerinnen warnen vor der Romantisierung informeller Siedlungen. Was in Lagos funktioniert, mag in München scheitern. Was in Wien erfolgreich ist, könnte in Nairobi versagen. Kollektive Intelligenz kann auch kollektive Dummheit bedeuten – Brexit und Trump lassen grüßen.
Die Biennale zeigt die Ambivalenz der Selbstorganisation. Einerseits entstehen innovative Lösungen, wenn Menschen ihre Probleme selbst in die Hand nehmen. Andererseits können Eigeninitiativen auch zu Ausgrenzung, Segregation und Ungleichheit führen. Gated Communities sind auch eine Form der Selbstorganisation.
Wohnen als Menschenrecht
Trotz aller Probleme ist die Botschaft der Biennale 2025 eindeutig: Wohnen ist ein Menschenrecht, kein Privileg. Ob durch staatliche Programme wie in Wien, durch Selbstorganisation wie in Rom oder durch partizipative Prozesse wie in Irland – alle Wege sind legitim, wenn sie zu bezahlbarem, würdevollem Wohnen für alle führen.
Die Klimakrise verschärft die Wohnungskrise noch. Millionen Menschen werden ihre Heimat verlassen müssen, Städte werden sich an neue Realitäten anpassen müssen. Kollektive Intelligenz wird zur Überlebensstrategie – nicht nur für Einzelne, sondern für ganze Gesellschaften.
Die Biennale 2025 zeigt: Die Zukunft des Wohnens ist plural. Es gibt nicht die eine Lösung, sondern viele Lösungen für viele Kontexte. Entscheidend ist, dass alle Menschen ein Dach über dem Kopf haben – egal ob aus Elefantendung, Recyclingmaterial oder Hochleistungsbeton.
Die 19. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ läuft noch bis zum 23. November 2025.
Öffnungszeiten:
- Mai bis 28. September: 11:00 – 19:00 Uhr (Freitag/Samstag im Arsenale bis 20:00 Uhr)
- 29. September bis 23. November: 10:00 – 18:00 Uhr
- Geschlossen: Montags (außer 12. Mai, 2. Juni, 21. Juli, 1. September, 20. Oktober, 17. November)
Veranstaltungsorte: Giardini und Arsenale, Venedig
Eintrittspreise:
- Einzelticket: 25€ (gültig für beide Venues)
- Ermäßigt: 22€ (Studierende, Senioren 65+, Gruppen ab 10 Personen)
- Familienticket: Kinder bis 6 Jahre frei
Weitere Informationen: www.labiennale.org/en/architecture/2025

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