Baukunst - Millionen-Turm aus dem 3D-Drucker: Wie ETH-Forscher ein Bergdorf retten wollen
Der Weiße Turm von Mulegns ©Benjamin Hofer

Millionen-Turm aus dem 3D-Drucker: Wie ETH-Forscher ein Bergdorf retten wollen

23.05.2025
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Ignatz Wrobel

Wenn Roboter Träume aus Beton weben

Der Weiße Turm von Mulegns markiert einen Wendepunkt in der Baugeschichte: Mit seiner Eröffnung am 20. Mai 2025 demonstriert der 30 Meter hohe Tor Alva nicht nur die technischen Möglichkeiten des 3D-Drucks mit Beton, sondern auch dessen poetische Kraft. Die 32 skulpturalen Säulen des höchsten 3D-gedruckten Bauwerks der Welt verwandeln digitale Algorithmen in greifbare Architektur und lassen dabei die Grenzen zwischen Kunst, Handwerk und Technologie verschwimmen.

Wenn Algorithmen zu Baumeistern werden

Die Entstehung des Tor Alva gleicht einem digitalen Schöpfungsakt, bei dem mathematische Formeln zu architektonischen Visionen reifen[2][5]. Michael Hansmeyer und ETH-Professor Benjamin Dillenburger haben mit ihrem Entwurf eine neue Formensprache entwickelt, die nur durch die Präzision robotergesteuerter Fabrikation möglich wird. Jede der 32 Säulen entsteht durch komplexe Algorithmen, die ornamentale und strukturelle Aspekte gleichzeitig generieren.

Der Druckprozess selbst wird zur Choreografie aus Technik und Material: Ein Industrieroboter trägt speziell entwickelten Feinkornbeton Schicht für Schicht auf, wobei die charakteristischen tropfenförmigen Reliefs entstehen[5]. Diese Oberflächenstruktur ist kein Zufall, sondern das Ergebnis präziser Materialsteuerung – kurz bevor der Beton die Druckdüse verlässt, werden zwei Additive beigemischt, die diese einzigartige Textur ermöglichen.

Die Formensprache des Turms folgt einer raffinierten Dramaturgie: Von massiven, gedrungenen Säulen im unteren Bereich entwickelt sich die Struktur nach oben hin zu immer filigraneren, verzweigten Elementen, bis sie sich schließlich im 7,5 Meter hohen Theatersaal zu einer baumartig auffächernden Kuppel vereinen. Diese gestalterische Evolution spiegelt nicht nur die strukturellen Anforderungen wider, sondern erzählt auch eine Geschichte des Aufstiegs – vom Erdverbundenen zum Himmlischen.

Revolution in der Betonmischung

Hinter der ästhetischen Brillanz des Tor Alva verbirgt sich eine technologische Revolution, die ETH-Professor Robert Flatt orchestriert hat[9]. Die Entwicklung einer neuartigen Betonmischung war der Schlüssel zum Erfolg: Das Material musste weich genug sein, um die filigranen Strukturen zu verbinden, gleichzeitig aber schnell genug aushärten, um die nachfolgenden Schichten zu tragen[5].

Diese Gratwanderung zwischen Formbarkeit und Festigkeit erforderte fundamentale Neudefinitionen der Betonchemie. Flatt, dessen Forschungsgruppe für Physikalische Chemie der Baustoffe an der ETH seit Jahren die Wissenschaft und Technologie von Betonzusatzmitteln vorantreibt, entwickelte eine Mischung, die den extremen Anforderungen des schichtweisen Aufbaus gerecht wird[9]. Das Ergebnis ist ein Material, das die Grenzen des Möglichen neu definiert und tragende Strukturen ohne jegliche Schalung ermöglicht.

Mitwachsende Bewehrung als Durchbruch

Eine der revolutionärsten Innovationen des Projekts liegt in der sogenannten „mitwachsenden Bewehrung“. Diese von den ETH-Professoren Walter Kaufmann, Robert Flatt und Benjamin Dillenburger gemeinsam mit dem ETH-Spin-off Mesh und der Firma Zindel United entwickelte Technologie löst eines der größten Probleme des 3D-Betondrucks: die Integration der statisch notwendigen Stahlbewehrung.

Während des Druckvorgangs platziert ein zweiter Roboter alle 20 Zentimeter ringförmige Armierungseisen in die frische Struktur. Diese horizontale Bewehrung wird durch vertikale Längsbewehrungsstäbe ergänzt, die nach dem Druck eingebracht werden[. Das System demonstriert eindrucksvoll, wie sich traditionelle Bautechniken mit digitalen Fertigungsmethoden zu völlig neuen Lösungsansätzen verbinden lassen.

Ergänzend entwickelten die Forschenden ein neues Testverfahren, mit dem sich die Tragfähigkeit von 3D-gedrucktem Beton erstmals verlässlich berechnen lässt. Diese Errungenschaft schafft die Grundlage dafür, solche Bauwerke künftig genauso sicher zu bemessen wie herkömmliche Stahlbetonkonstruktionen.

Digitale Renaissance einer sterbenden Tradition

Der Tor Alva erweist sich als zeitgemäße Hommage an eine fast vergessene Handwerkstradition. Die ornamentale Gestaltung erinnert bewusst an die lokale Bündner Zuckerbäckertradition. Viele Bündner Auswanderer hatten sich im 18. Jahrhundert als Patissiers in ganz Europa etabliert und waren bekannt für ihre filigranen Zuckertürme mit üppiger Verzierung.

Diese historische Referenz ist mehr als nostalgische Verklärung – sie demonstriert, wie digitale Fertigungstechnologien alte Handwerkstraditionen nicht ersetzen, sondern transformieren können. Wo einst Konditoren und Konditorinnen mit Zucker und Fondant arbeiteten, schaffen heute Roboter mit Beton und Algorithmen neue Formen der Ornamentik. Die Präzision der Maschine ermöglicht dabei eine Komplexität und Detailtreue, die menschliche Hände nie erreichen könnten.

Vom Labor in die Berglandschaft

Die Realisierung des Projekts war ein logistisches Meisterwerk, das die Grenzen zwischen Forschung und Praxis auslotete. Fünf Monate dauerte es, die Säulenelemente auf dem ETH Campus Hönggerberg zu drucken. Anschließend wurden diese in Savognin zusammengefügt und per Schwertransport über die kurvenreiche Julierstraße nach Mulegns gebracht.

Diese Odyssee von der Laborhalle in die alpine Berglandschaft symbolisiert den Übergang der 3D-Drucktechnologie von der experimentellen Phase zur praktischen Anwendung. Der Transport der empfindlichen Betonelemente durch das Hochgebirge stellte dabei eigene technische Herausforderungen dar und bewies die Robustheit der neuen Bauweise.

Das kleine Bergdorf Mulegns, das heute nur noch elf Einwohnerinnen und Einwohner zählt, wird damit zum unerwarteten Schauplatz einer architektonischen Revolution. Die Ironie ist bemerkenswert: Ausgerechnet in einem der abgelegensten Orte der Schweiz entsteht das modernste Bauwerk seiner Art.

Nachhaltigkeit durch Materialeffizienz

Der 3D-Druck mit Beton eröffnet neue Dimensionen nachhaltigen Bauens. Durch den schichtweisen Aufbau und die algorithmische Optimierung lassen sich Materialverbrauch und CO₂-Emissionen erheblich reduzieren[15]. Die hohlen Betonstrukturen des Tor Alva nutzen Materialien strategisch und ermöglichen einen nachhaltigeren Ansatz zur Betonarchitektur.

Hinzu kommt die Demontierbarkeit des Bauwerks: Nach etwa fünf Jahren kann der Tor Alva abgebaut und an einem anderen Ort wieder errichtet werden. Diese modulare Konzeption mit abnehmbaren Schraubverbindungen anstelle von Klebstoffen unterstreicht die Kreislaufwirtschaftsgedanken der neuen Bautechnologie.

Ausblick in die Zukunft des Bauens

Mit der Eröffnung des Tor Alva beginnt nicht nur für Mulegns eine neue Ära, sondern für die gesamte Baubranche. Das Projekt demonstriert, dass 3D-gedruckte Betonstrukturen die Schwelle zur Marktreife überschritten haben. Die Kombination aus automatisierter Fertigung, materialeffizienter Gestaltung und struktureller Innovation weist den Weg zu einer grundlegend veränderten Baupraxis.

Die täglich stattfindenden Führungen ab dem 23. Mai und die geplanten kulturellen Aufführungen ab Juli werden den Turm zu einem lebendigen Labor machen. Besucherinnen und Besucher können hier nicht nur architektonische Innovation erleben, sondern auch die Zukunft des Bauens mit allen Sinnen erfahren.

Der Tor Alva steht damit symbolisch für eine neue Phase der Architektur, in der Traditionen nicht abgebrochen, sondern digital weitergespinnen werden. Wenn Roboter Träume aus Beton weben, entstehen Bauwerke, die sowohl die Vergangenheit ehren als auch die Zukunft vorwegnehmen.