Baukunst-Museum als bewegter Widerstand: Hannovers geschlossene Kultureinrichtung befreit Geschichte aus elitären Räumen
© Joshua Kettle/Unsplash

Museum als bewegter Widerstand: Hannovers geschlossene Kultureinrichtung befreit Geschichte aus elitären Räumen

19.02.2025
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Ignatz Wrobel

Museumsarchitektur im Wandel: Wenn Institutionen ihre Mauern verlassen

Während das Historische Museum Hannover umfassend saniert wird, entfaltet sich ein bemerkenswertes Phänomen urbaner Kulturvermittlung: Die Institution verlässt ihre gewohnten Räume und erobert den Stadtraum. Ein architektonisches Experiment mit gesellschaftlicher Tragweite.

Von der Not zur Tugend: Museum ohne Gebäude

Die Ausgangslage ist typisch für viele Kulturbauten der Nachkriegszeit: Das Historische Museum Hannover entspricht nicht mehr zeitgemäßen Standards. Die veraltete Infrastruktur aus den 1960er-Jahren, unzureichende Barrierefreiheit und klimatechnische Mängel machten eine grundlegende Sanierung unumgänglich. Das renommierte Berliner Büro Springer Architekten gewann 2021 den Wettbewerb mit einem Entwurf, der behutsam Altes bewahrt und gleichzeitig neue räumliche Qualitäten schafft.

Die Arbeiten sind umfangreich: Ein neuer Anbau wird das historische Gebäude ergänzen und zusätzliche Ausstellungsfläche bieten. Der denkmalgeschützte Altbau – Teil des ehemaligen Wangenheimpalais – erfährt eine sorgfältige Restaurierung. Im Innenhof entsteht mit dem 32 Meter hohen „Geschichtsbaum“ ein neues städtisches Wahrzeichen, während ein gläserner Verbindungsbau Alt und Neu harmonisch zusammenführt.

Architektur der Abwesenheit: Präsenz ohne Raum

Doch was macht ein Museum, wenn seine physische Hülle nicht zur Verfügung steht? Die Kuratorinnen und Kuratoren des Historischen Museums haben diese Herausforderung kreativ angenommen. Statt lediglich auf die für 2028 geplante Wiedereröffnung zu warten, entwickelten sie ein dezentrales Vermittlungskonzept, das die Museumsarbeit in den öffentlichen Raum verlagert.

Dieses Konzept manifestiert sich exemplarisch in der Veranstaltungsreihe „Waterloo„, die die Geschichte des gleichnamigen Platzes mit seiner imposanten Siegessäule ins Zentrum rückt. Am 25. Februar 2025 wird der Hannover Kiosk in der Karmarschstraße 40 zum temporären Ausstellungsort. Von hier aus blicken die Besucherinnen und Besucher gemeinsam mit der 1832 errichteten Waterloosäule auf 200 Jahre Stadtgeschichte.

Die architektonische Leistung besteht hier nicht im Errichten neuer Bauwerke, sondern im klugen Nutzen vorhandener urbaner Strukturen. Der Kiosk – selbst ein architektonisches Kleinod mit seiner transparenten Gestaltung – wird zur Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Diese temporäre Umnutzung bestehender Räume folgt einem Trend, der sich in der zeitgenössischen Architektur zunehmend durchsetzt: Statt Neubau steht Transformation im Vordergrund.

Architektonisches Erbe als Ausgangspunkt

Die Waterloosäule selbst, entworfen vom bedeutenden Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves, verkörpert den klassizistischen Stil seiner Entstehungszeit. Mit 46,31 Metern Höhe war sie bis zur Errichtung der Berliner Siegessäule 1873 das höchste Bauwerk dieser Art in Deutschland. Ihre vergoldete Victoria-Statue und die Sockelreliefs mit vier Löwen symbolisieren die hannoversche Militärgeschichte.

Dass die Säule heute noch steht, ist bemerkenswert. Während der NS-Zeit plante man, sie für eine Hitler-Statue zu opfern – ein Vorhaben, das glücklicherweise am Sandsteinmangel scheiterte. 2010-2011 wurde das Bauwerk für 1,7 Millionen Euro umfassend saniert, wobei die Statue neu vergoldet und der Deister-Sandstein gereinigt wurde. Die Säule, die bis heute die Perspektive auf die Stadt prägt, steht exemplarisch für die Wandlungsfähigkeit urbaner Räume – ein Thema, das auch die Museumsveranstaltung aufgreift.

Partizipative Architekturvermittlung

Bemerkenswert an diesem Ansatz ist die partizipative Komponente. Das Museum verlässt seine traditionelle Rolle als Ort passiver Betrachtung und wird zum aktiven Teilnehmer im städtischen Dialog. Dieser Ansatz korrespondiert mit der geplanten Neukonzeption des Museums, bei der Bürgerinnen und Bürger in Workshops zur Ausstellungsgestaltung eingebunden wurden.

Die Veranstaltungen ohne Anmeldung senken bewusst die Zugangshürden. Architektur wird hier nicht als elitäres Expertenwissen, sondern als gemeinsames kulturelles Erbe vermittelt. Diese demokratisierende Tendenz findet sich auch in den geplanten baulichen Veränderungen des Museums wieder: Barrierefreiheit, inklusive Ausstellungsgestaltung und taktile Leitsysteme sollen künftig allen Besuchergruppen den Zugang ermöglichen.

Digitale Erweiterung des physischen Raums

Parallel zur Präsenz im Stadtraum nutzt das Museum digitale Kanäle, um seine Inhalte zu vermitteln. 3D-Rundgängedurch die alte Ausstellung und virtuelle Modelle des geplanten Neubaus erweitern den architektonischen Diskurs in den digitalen Raum. Diese hybride Strategie entspricht aktuellen Entwicklungen in der Architekturvermittlung, bei der physische und virtuelle Räume zunehmend verschmelzen.

So ist beispielsweise ein 3D-Modell der Waterloosäule im Historischen Museum virtuell erlebbar – selbst wenn das reale Gebäude derzeit geschlossen ist. Diese digitale Architekturrepräsentation ergänzt die physische Erfahrung und ermöglicht neue Perspektiven auf historische Bauwerke.

Nachhaltigkeit als architektonische Maxime

Die Sanierung des Museumsgebäudes folgt konsequent ökologischen Prinzipien. Geothermie, Photovoltaik und eine optimierte Gebäudehülle sollen dem Klimaneutralitätsziel dienen. Diese Ausrichtung auf Nachhaltigkeit spiegelt einen fundamentalen Wandel im architektonischen Denken: Weg von der ressourcenintensiven Repräsentationsarchitektur, hin zu energieeffizienten Lösungen mit reduziertem ökologischen Fußabdruck.

Auch das temporäre Bespielen bestehender Räume während der Bauphase folgt diesem Nachhaltigkeitsgedanken. Statt provisorische Ausstellungsarchitekturen zu schaffen, nutzt das Museum vorhandene städtische Strukturen und minimiert so den Ressourcenverbrauch.

Kritische Reflexion und Ausblick

Bei aller Innovation birgt das Konzept des „Museums auf Tour“ auch Herausforderungen. Die Frage nach konsistenter kuratorischer Qualität bei dezentralen Formaten stellt sich ebenso wie die nach der Erreichbarkeit verschiedener Bevölkerungsgruppen. Nicht jeder Stadtteil profitiert gleichermaßen von den Pop-up-Ausstellungen, und digitale Angebote setzen entsprechende technische Ausstattung und Medienkompetenz voraus.

Dennoch überwiegen die Chancen dieses mutigen Experiments. Das Historische Museum Hannover transformiert die erzwungene Abwesenheit eines festen Gebäudes in ein innovatives Vermittlungskonzept, das neue Wege der Interaktion mit dem städtischen Raum erprobt. Diese Herangehensweise könnte modellhaft für andere Kulturinstitutionen werden, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

Wenn 2028 die Türen des sanierten Museums wieder öffnen, wird die Institution reicher an Erfahrungen zurückkehren. Die Jahre des Wanderns durch die Stadt haben nicht nur die Grenzen zwischen Institution und urbanem Raum durchlässiger gemacht, sondern auch neue Perspektiven auf die Wechselbeziehung zwischen Architektur und Gesellschaft eröffnet. Die eigentliche architektonische Leistung besteht hier nicht primär im physischen Umbau, sondern in der konzeptionellen Neuinterpretation dessen, was ein Museum im 21. Jahrhundert sein kann.