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Neustadt macht Tabula rasa: Der Abriss der Hertie-Ruine als städtebaulicher Befreiungsschlag

20.08.2025
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Claudia Grimm

Demokratie baut Stadt: Neustadts mutiger Weg aus der Investorenpleite

Ein Kapitel schließt sich – endlich

Fünfzehn Jahre des Stillstands haben in Neustadt an der Weinstraße tiefe Spuren hinterlassen. Die ehemalige Hertie-Filiale am Bachgängel, einst pulsierendes Herz des innerstädtischen Einzelhandels, verkam zur steinernen Mahnung gescheiterter Projektentwicklung. Nun hat die Stadt das Heft des Handelns selbst in die Hand genommen: Mit dem einstimmigen Stadtratsbeschluss vom 29. April 2025, die Immobilie für 4,5 Millionen Euro aus der Insolvenzmasse der Devello AG zu erwerben, beginnt eine neue Zeitrechnung. Der geplante Abriss bis auf die Kellerplatte mag radikal erscheinen – tatsächlich ist er ein überfälliger Befreiungsschlag.

Rheinland-pfälzische Planungskultur im Praxistest

Die Geschichte der Hertie-Ruine spiegelt exemplarisch die Herausforderungen mittelgroßer Städte in Rheinland-Pfalz wider. Während Mainz und Ludwigshafen mit Landesförderprogrammen für Innenstadtentwicklung operieren können, kämpfen Städte wie Neustadt oft allein gegen städtebauliche Missstände. Die rheinland-pfälzische Landesbauordnung gibt den Kommunen zwar weitreichende Eingriffsmöglichkeiten bei Schrottimmobilien, doch die finanziellen Mittel für deren Umsetzung fehlen häufig. Neustadt zeigt nun, dass kommunaler Mut sich auszahlen kann: Der Erwerb erfolgt bewusst ohne gesicherte Anschlussnutzung, dafür mit dem klaren Bekenntnis zur Bürgerbeteiligung.

Oberbürgermeister Marc Weigel spricht von einem “städtebaulichen Missstand”, der endlich beseitigt werden müsse. Diese Formulierung ist juristisch präzise gewählt: Nach § 177 BauGB hätte die Stadt theoretisch schon früher ein Modernisierungs- oder Abbruchgebot erlassen können. Dass man stattdessen den Weg des Erwerbs wählte, zeigt pragmatische Weitsicht. Die Kontrolle über die Entwicklung liegt nun vollständig bei der Kommune – ein Luxus, den sich nicht jede Stadt leisten kann oder will.

Zwischen Parkplatz und Perspektive

Die Interimslösung Parkplatz mag auf den ersten Blick fantasielos wirken. Tatsächlich offenbart sie cleveres Kalkül: Mit geschätzten 1,5 Millionen Euro für Abriss und Oberflächengestaltung entstehen überschaubare Folgekosten, während die Parkgebühren zur Refinanzierung beitragen. Wichtiger noch: Die Stadt gewinnt Zeit für einen qualitätsvollen Planungsprozess. Der angekündigte Wettbewerb soll nicht nur Architektinnen und Architekten, sondern auch die Bürgerschaft einbeziehen – ein Ansatz, der in der Pfalz Schule machen könnte.

Die regionale Baukultur steht dabei vor besonderen Herausforderungen. Neustadt, als historische Residenzstadt mit barockem Erbe und gründerzeitlicher Prägung, verlangt nach sensibler Einfügung neuer Bausubstanz. Die gescheiterten Versuche der Devello AG, mit einer “perforierten Aluminiumfassade im Fachwerkstil” zu operieren, zeigen die Fallstricke oberflächlicher Kontextualisierung. Der kommende Wettbewerb muss diese Fehler vermeiden und stattdessen zeitgemäße Antworten auf die Frage finden, wie moderne Handelsarchitektur in gewachsene Strukturen integriert werden kann.

Lehren aus dem Devello-Debakel

Das Scheitern der Hamburger Devello AG ist mehr als eine unternehmerische Pleite – es ist ein Lehrstück über die Risiken auswärtiger Investoren in regionalen Märkten. Die Firma hatte das Gebäude 2018 übernommen und vollmundig eine Eröffnung für 2020 angekündigt. Was folgte, war eine Kaskade von Verzögerungen, Baufirmen-Wechseln und schließlich die Insolvenz. Christian Zöll, Geschäftsführer der Devello, hatte noch 2023 von “70 Prozent Vermietungsquote” gesprochen – eine Zahl, die sich im Nachhinein als Luftschloss erwies.

Die lokale Immobilienwirtschaft und regionale Projektentwickler beobachteten das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Einerseits bestätigte sich die Skepsis gegenüber ortsfremden Akteuren, andererseits wurde deutlich, dass auch heimische Kräfte keine Lösung parat hatten. Die Tatsache, dass beim finalen Bieterverfahren offenbar keine ernst zu nehmende Konkurrenz zur Stadt auftrat, spricht Bände über die Markteinschätzung der Immobilie.

Regionale Netzwerke als Erfolgsfaktor

Der Neustadter Weg zeigt, wie wichtig funktionierende regionale Netzwerke sind. Die Zusammenarbeit zwischen Stadt, Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) in Neustadt und dem Insolvenzverwalter verlief konstruktiv – keine Selbstverständlichkeit in solchen Verfahren. Besonders bemerkenswert: Die ADD signalisierte frühzeitig Unterstützung für den notwendigen Nachtragshaushalt, ohne den der Erwerb nicht möglich gewesen wäre. Diese Art der unbürokratischen Zusammenarbeit zwischen kommunaler und Landesebene könnte Modellcharakter für andere rheinland-pfälzische Städte haben.

Auch die lokale Politik zog an einem Strang. Der einstimmige Stadtratsbeschluss über alle Fraktionsgrenzen hinweg ist in Zeiten polarisierter Kommunalpolitik keine Selbstverständlichkeit. Er zeigt, dass der Leidensdruck groß genug war, um parteipolitische Differenzen hintanzustellen. Diese Einigkeit wird auch für die kommenden Planungsprozesse wichtig sein.

Bürgerbeteiligung als Chance und Herausforderung

“Wir wollen etwas Tragfähiges und Sinnhaftes entwickeln”, verspricht Oberbürgermeister Weigel. Die angekündigte breite Bürgerbeteiligung ist dabei mehr als demokratisches Feigenblatt – sie ist notwendige Voraussetzung für die Akzeptanz der künftigen Lösung. Die Neustadter Bürgerinnen und Bürger haben fünfzehn Jahre des Verfalls miterlebt, sie haben ein Recht auf Mitsprache bei der Neugestaltung.

Doch Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung ist kein Selbstläufer. Die Erfahrungen aus anderen pfälzischen Städten zeigen: Ohne professionelle Moderation und klare Spielregeln verkommen solche Prozesse schnell zu Wunschkonzerten ohne Realisierungschance. Neustadt täte gut daran, sich externe Expertise zu sichern – etwa vom Büro für Bürgerbeteiligung des Landes Rheinland-Pfalz oder von spezialisierten Planungsbüros mit Moderationserfahrung.

Nachhaltigkeitsaspekte im Fokus

Der Abriss eines Bestandsgebäudes wirft unweigerlich Fragen der Nachhaltigkeit auf. Die graue Energie, die in der Bausubstanz steckt, wird vernichtet – ein Aspekt, der in Zeiten des Klimawandels nicht ignoriert werden darf. Andererseits zeigen die gescheiterten Sanierungsversuche, dass nicht jede Bausubstanz erhaltenswert ist. Die von Wasserschäden durchzogene Ruine hätte nur mit unverhältnismäßigem Aufwand saniert werden können.

Der Erhalt der Kellerplatte ist ein kluger Kompromiss. Sie kann als Fundament für einen Neubau dienen und spart Ressourcen bei der Gründung. Zudem bleiben unterirdische Leitungen und Anschlüsse erhalten – ein nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. Der kommende Wettbewerb sollte explizit nachhaltige Baukonzepte einfordern: Holzhybridbau, Photovoltaik-Integration und Regenwassermanagement könnten Neustadt zum Vorreiter klimagerechten Bauens in der Pfalz machen.

Ausblick: Von der Last zur Chance

Die Hertie-Ruine war jahrelang das Symbol für Stillstand und verpasste Chancen in Neustadt. Ihr Abriss markiert nun einen Neuanfang – nicht nur städtebaulich, sondern auch mental. Die Stadt beweist Handlungsfähigkeit und Gestaltungswillen, Eigenschaften, die in der interkommunalen Konkurrenz der Metropolregion Rhein-Neckar überlebenswichtig sind.

Der vor uns liegende Prozess wird Jahre dauern. Vom Abriss über Bürgerbeteiligung und Wettbewerb bis zur Realisierung eines neuen Konzepts vergehen erfahrungsgemäß mindestens fünf Jahre. Doch diese Zeit ist gut investiert, wenn am Ende eine Lösung steht, die von der Stadtgesellschaft getragen wird und Neustadt städtebaulich voranbringt. Die Chance, aus dem Schandfleck einen Glanzpunkt zu machen, war nie größer. Es liegt nun an allen Beteiligten, sie zu nutzen.