
Wie eine hessische Mittelstadt zum bundesweiten Vorbild für Stadtumbau wurde
Wer heute durch Hanaus Innenstadt schlendert, erlebt einen urbanen Raum, der vor zwei Jahrzehnten noch in weiten Teilen als Parkplatz diente. Das Forum Hanau, das Kulturforum, der neugestaltete Freiheitsplatz und seit März 2025 der Stadthof im ehemaligen Kaufhof bilden eine bemerkenswerte Kette von Transformationsprojekten, die weit über Hessen hinaus Beachtung finden. Die Geschichte dieses Wandels ist zugleich eine Lektion darüber, wie Kommunen Stadtentwicklung selbst in die Hand nehmen können, wenn der politische Wille und die nötige Beharrlichkeit vorhanden sind.
Martin Bieberle, Leiter des Fachbereichs Planen, Bauen und Umwelt, hat diesen Prozess von Beginn an begleitet. Seine Bilanz nach zehn Jahren Forum Hanau fällt nüchtern positiv aus: Man habe mehr richtig als falsch gemacht, andernfalls wäre die Innenstadt heute „totes Fleisch”. Diese unverblümte Einschätzung verdeutlicht, wie dramatisch die Ausgangslage war. Die Fußgängerzonen waren zwar belebt, doch ein attraktiver Einkaufsstandort sah schon damals anders aus. Das Sporthaus Barthel am Freiheitsplatz schloss, andere Geschäfte folgten.
Perspektivwechsel als Schlüssel
Der entscheidende Wendepunkt kam mit einem methodischen Umdenken. Statt sich in den Details einzelner Probleme zu verlieren, entwickelten die Stadtentwicklerinnen und Stadtentwickler gemeinsam mit der Politik unter Oberbürgermeister Claus Kaminsky eine Gesamtstrategie aus größerer „Flughöhe”. Inspirationen holte man sich unter anderem in Maastricht, wo man sich über Projekte zum urbanen Wandel informierte.
Dieser Perspektivwechsel war mutig, denn er erforderte die Zusammenarbeit mit privaten Investoren auf einem damals noch ungewohnten Niveau. Der 2008 beschlossene „Wettbewerbliche Dialog” war europaweit einmalig und führte 2010 zur Partnerschaft mit der Hanseatischen Betreuungs- und Beteiligungsgesellschaft. Die Abstimmung erfolgte mit klarer Mehrheit, nur die Linke stimmte dagegen. Ihre Warnungen vor Gentrifizierung und ihre grundsätzliche Kritik an der Kooperation mit Investoren verhallten nicht ungehört, setzten sich aber nicht durch.
Doppelte Herausforderung: Stadtumbau und Konversion
Parallel zum Innenstadtumbau stand Hanau vor einer zweiten gewaltigen Aufgabe. Die US Army, einst mit rund 30.000 Soldatinnen, Soldaten, Angestellten und Familienangehörigen der größte amerikanische Militärstandort in Europa, kündigte ihren Abzug an. In einem „lapidaren Vierzeiler” aus dem Pentagon, wie Bieberle es beschreibt, wurde das Ende einer Ära verkündet. Am 22. November 2008 wurde auf der Pioneer Kaserne die letzte amerikanische Flagge eingeholt.
Die Konversion von 340 Hektar ehemaliger Militärliegenschaften bot Chancen, die Hanau konsequent nutzte. Mehr als 1000 Wohneinheiten entstanden, auf dem Gelände der Pioneer Kaserne entsteht mit dem Pioneer Park ein neues Stadtquartier für 5000 Menschen. Dass die Stadt bei diesem größten Konversionsprojekt erstmals selbst als Käufer der Gesamtfläche auftrat und gemeinsam mit der DSK BIG Gruppe die LEG Hessen Hanau gründete, zeugt von einem bemerkenswerten Gestaltungswillen.
Forum, Kulturforum und die Kunst der Mischnutzung
Das 2015 eröffnete Forum Hanau mit seinen 22.500 Quadratmetern Mietfläche ist mehr als ein konventionelles Einkaufszentrum. Die Integration des Kulturforums mit Stadtbibliothek, Stadtarchiv und Geschichtsverein in die Handelsimmobilie war ein bewusster Bruch mit der Monofunktionalität klassischer Shopping Malls. Die offene Bauweise sollte das Forum in die städtische Struktur einbinden, statt es wie einen Fremdkörper in die City zu implantieren.
Die Stadtbibliothek als Herzstück des Kulturforums hat sich zu dem entwickelt, was Stadtsoziologinnen und Stadtforscher einen „dritten Ort” nennen: ein nicht kommerzieller Treffpunkt neben Wohnung und Arbeitsplatz, an dem die Themen der Stadtgesellschaft diskutiert werden. Rund 2,1 Millionen Euro zahlt die Stadt jährlich an Miete für diese öffentliche Nutzung, eine Investition, die sich in der Frequentierung des gesamten Quartiers auszahlt.
Vom Kaufhof zum Stadthof: Aktive Gestaltung statt Leerstand
Die jüngste und vielleicht mutigste Facette des Hanauer Stadtumbaus ist die Transformation des ehemaligen Kaufhof Gebäudes zum Stadthof. Als der Galeria Konzern im März 2023 die Schließung der Filiale bekanntgab, erklärte Kaminsky noch am selben Tag, die Stadt werde das Gebäude übernehmen. Für 25 Millionen Euro erwarb die Kommune die 16.000 Quadratmeter große Immobilie, weitere 40 Millionen Euro fließen in Sanierung und Umbau.
Die Stadtverordnetenversammlung votierte einstimmig dafür. Der prägnante Satz des Oberbürgermeisters, Hanau könne es sich nicht leisten, den Kaufhof nicht zu kaufen, fasst die Dringlichkeit zusammen. Exakt zwei Jahre nach der Hiobsbotschaft eröffnete im März 2025 das Erdgeschoss mit einem innovativen Mix aus Pop up Stores, der Agora als konsumfreiem Begegnungsraum und der Brüder Grimm Berufsakademie im dritten Obergeschoss.
Kritische Würdigung
Bei aller berechtigten Anerkennung bleiben kritische Fragen. Die rund 600 Millionen Euro, die insgesamt in den Innenstadtumbau flossen, kamen überwiegend von privaten Investoren. Allein HBB investierte 160 Millionen Euro in das Forum. Diese Abhängigkeit von privatem Kapital birgt Risiken, auch wenn Hanau betont, die eigenen Ziele im Dialog mit den Investoren verwirklicht zu haben.
Die ursprünglichen Bedenken der politischen Linken zur Gentrifizierung sind nicht vollständig entkräftet. Das „Westcarré” an der Wallonisch Niederländischen Kirche, dessen marode Bausubstanz der 1950er Jahre durch moderne Wohnbebauung ersetzt wurde, verdeutlicht den Wandel. Für langjährige Mieterinnen und Mieter, darunter ehemalige Trümmerfrauen, war der Umzug ein schmerzhafter Einschnitt, auch wenn die Hanauer Baugesellschaft ihr Versprechen einlöste, allen eine neue Wohnung anzubieten.
Auch kleine Rückschläge gehören zur Realität: Die am Freiheitsplatz gepflanzten Tulpenbäume haben die Hitzejahre nicht überstanden, die meisten gehen ein. Ein Detail, das an die Grenzen stadtplanerischer Vorhersehbarkeit erinnert.
Modellcharakter mit regionaler Prägung
Hanaus Erfolg basiert auf mehreren Faktoren, die sich nicht beliebig auf andere Kommunen übertragen lassen: eine entschlossene politische Führung, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit privaten Partnern, das Glück des historischen Zeitpunkts mit zeitgleicher Konversion und nicht zuletzt die Lage im prosperierenden Rhein Main Gebiet. Dennoch bietet das Modell Hanau wertvolle Lehren für andere Städte, die mit dem Strukturwandel im Einzelhandel und dem Niedergang klassischer Innenstädte kämpfen.
Der Stadtumbau in Hanau ist nicht abgeschlossen. Die Umgestaltung hat inzwischen die Altstadt erreicht, der Schlossplatz steht vor seinem Umbau, auf den Industrieflächen zwischen Hauptbahnhof und City soll ein neues Quartier entstehen. Die Frage, wie man eine Innenstadt am Leben hält, ist zur Daueraufgabe geworden. Hanau hat darauf keine endgültige Antwort gefunden, aber einen Weg, der anderen Kommunen Mut machen kann.

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