Baukunst - Studentisches Wohnen neu gedacht: Ein Plädoyer für Selbstverwaltung und NachhaltigkeitWohnungsbau
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Studentisches Wohnen neu gedacht: Ein Plädoyer für Selbstverwaltung und Nachhaltigkeit

21.04.2025
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Berthold Bürger

Ein selbstverwaltetes Wohnheim in Heidelberg zeigt, wie gemeinschaftlich organisierter, ökologisch durchdachter und solidarisch finanzierter Wohnraum Realität wird – und was es dafür braucht.

Selbstverwaltet, nachhaltig, solidarisch: Das Collegium Academicum in Heidelberg zeigt, wie studentisches Wohnen neu gedacht werden kann – als lebendige Alternative zum anonymen Mietmarkt.

Zwischen Wohnungsnot und Wohnutopie

In einer Stadt, in der WG-Zimmer längst zum Luxusgut geworden sind, entsteht im Süden Heidelbergs ein Gegenentwurf zur angespannten Lage auf dem studentischen Wohnungsmarkt. Während staatlich geförderte Wohnheime überfüllt sind und private Vermietungen selten unter 500 Euro pro Monat zu haben sind, gelingt einer Gruppe Studierender das scheinbar Unmögliche: gutes, günstiges Wohnen – selbst organisiert, nachhaltig gebaut und gemeinschaftlich getragen.

Im neu errichteten Holzbau des Collegium Academicum leben inzwischen rund 250 Menschen in Dreier- und Vierer-Wohngemeinschaften. Der Mietpreis liegt bei 375 Euro – pauschal, inklusive aller Nebenkosten. Möglich wird das durch ein selbstverwaltetes Konzept, das weit über das gewöhnliche Engagement studentischer Initiativen hinausgeht.

Architektur mit Haltung

Formal ist der Bau ein klar strukturierter U-förmiger Holzkomplex, dessen Gestaltung bewusst auf Ästhetik, Funktionalität und ökologische Verantwortung setzt. Hinter der Fassade verbirgt sich jedoch mehr als nur Wohnraum. Das Gebäude selbst ist Teil der Idee: Es wurde in weiten Teilen von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst geplant, mitgestaltet und teilweise auch gebaut.

Das Tragwerk besteht fast vollständig aus Holz – ein Novum auf dem studentischen Wohnbausektor. Lediglich das Treppenhaus wurde aus Gründen des Brandschutzes in Beton ausgeführt. Die Gebäudehülle ist so effizient gedämmt, dass kaum Heizenergie benötigt wird. Eine Photovoltaikanlage auf dem Dach speist Strom nicht nur für den Eigenverbrauch, sondern liefert Überschüsse ins Netz. Das Wohnheim erfüllt den KfW-40-Plus-Standard – ein Statement in Zeiten steigender Energiekosten.

Demokratischer Alltag in der Wohngemeinschaft

Wer hier lebt, entscheidet mit. Ob Reinigungsplan, Gartenpflege oder die Nutzung der Aula – alle Bereiche des Wohnalltags werden von Arbeitsgruppen organisiert, koordiniert und verwaltet. Mietverträge, Kautionen, Instandhaltung – all das übernehmen die Studierenden selbst.

Das zentrale Steuerungsinstrument ist das wöchentliche Plenum. Entscheidungen werden im Konsensprinzip getroffen. Jedes Mitglied hat ein Vetorecht. Kompromisse sind dabei keine Schwäche, sondern ein Zeichen gelebter Demokratie.

Die Mitbestimmung ist kein bloßes Feigenblatt, sondern vertraglich verankerte Realität. Wer hier wohnt, bringt sich ein – durchschnittlich fünf bis sechs Stunden pro Woche. Ein Aufwand, der durchaus an Nebenjobs erinnert, jedoch mit einem nicht zu unterschätzenden Mehrwert: Gestaltungsspielraum, Gemeinschaftssinn und Eigenverantwortung.

Finanzierung durch Vertrauen

Die ökonomische Basis des Projekts ist ebenso außergewöhnlich wie sein bauliches Konzept. Neben Fördermitteln von Bund, Land und Stadt spielen sogenannte Direktkredite eine zentrale Rolle. Mehr als 600 Privatpersonen haben dem Projekt bislang knapp 4,6 Millionen Euro zur Verfügung gestellt – zinsgünstig, solidarisch und mit dem Wissen, Teil eines größeren Ganzen zu sein.

Derartige Kredite lassen sich heute nur schwer wiederholen, räumen die Verantwortlichen ein. Das günstige Zinsumfeld der frühen Projektjahre war ein Glücksfall. Dennoch zeigt das Modell: Wenn Planung, Verantwortung und Vertrauen zusammenkommen, lassen sich auch große Summen auf alternativen Wegen mobilisieren.

Zwischen Idealismus und Alltag

Natürlich bringt die Selbstverwaltung Herausforderungen mit sich. Die Konsensfindung ist zeitintensiv, und nicht alle Beteiligten verfügen über dieselbe Energie oder Kapazität. In Prüfungsphasen oder bei persönlichen Belastungen tritt die Projektarbeit in den Hintergrund – ein Umstand, der innerhalb der Gemeinschaft respektiert wird.

Damit Engagement nicht zur Überforderung führt, wurden strukturelle Lösungen gefunden: ein Buddy-System für Neuankömmlinge, regelmäßige Reflexionsgespräche und eine transparente Aufgabenverteilung sorgen für Balance. Dennoch bleibt das Spannungsfeld zwischen individuellem Alltag und kollektivem Anspruch bestehen – und genau darin liegt die Kraft des Projekts.

Architektur als soziale Infrastruktur

Was das Collegium Academicum besonders macht, ist nicht allein die beeindruckende Kombination aus ökologischer Bauweise, günstiger Miete und durchdachter Organisation. Es ist das gesellschaftliche Modell dahinter, das Fragen aufwirft – und Antworten gibt: Wer entscheidet über Wohnraum? Wie kann Architektur gemeinschaftsstiftend wirken? Und wie viel Verantwortung sind Menschen bereit zu übernehmen, wenn man ihnen tatsächlich Verantwortung überträgt?

Dass sich durch diese Struktur auch ganz persönliche Perspektiven verschieben können, zeigt sich an vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, die hier erstmals erleben, wie Architektur und Mitgestaltung sich unmittelbar auf den Lebensalltag auswirken – und mitunter auch auf die Berufswahl. Wer eine Pressemitteilung formuliert, Sitzungen moderiert oder einen Haushalt verwaltet, lernt nicht nur wohnen, sondern auch führen.

Modell mit Zukunft?

Ob das Heidelberger Beispiel auf andere Städte übertragbar ist, hängt weniger von materiellen als von sozialen Ressourcen ab. Das Konzept steht und fällt mit Engagement, Ausdauer und der Bereitschaft, Prozesse mitzutragen – auch wenn sie anstrengend sind. Doch gerade darin liegt ein Potenzial, das weit über studentisches Wohnen hinausweist: Eine Architektur, die nicht nur Wohnraum schafft, sondern Gemeinsinn – das ist ein Fundament, auf dem sich bauen lässt.

Ein Projekt wie das Collegium Academicum beweist, dass ein anderes Wohnen möglich ist – wenn man bereit ist, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.