Baukunst - Tag der Umbaukultur: Zwischen Tradition und Moderne
Eine gesellschaftliche Bewegung © Bundesstiftung Baukultur

Tag der Umbaukultur: Zwischen Tradition und Moderne

20.09.2025
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Berthold Bürger

Die goldene Energie des Bestands: Warum Umbaukultur eine soziale Revolution ist

Mehr als nur Steine und Mörtel

Der 8. November markiert seit 2022 einen bedeutsamen Wendepunkt in der deutschen Architekturgeschichte. An diesem Tag stellte die Bundesstiftung Baukultur ihren wegweisenden Bericht „Neue Umbaukultur” vor und etablierte damit einen jährlichen Aktionstag, der weit mehr als nur technische Aspekte des Bauens thematisiert. Er wirft fundamentale Fragen zur gesellschaftlichen Verantwortung, sozialen Gerechtigkeit und demokratischen Teilhabe in der Stadtentwicklung auf.

In deutschen Städten manifestiert sich derzeit ein Paradoxon: Während die Klimakrise und explodierende Baukosten nach intelligenten Lösungen verlangen, weisen Kommunen weiterhin neues Bauland aus. Der reflexhafte Griff zur Abrissbirne dominiert noch immer gegenüber durchdachten Umbaukonzepten. Diese Praxis ignoriert nicht nur ökologische Notwendigkeiten, sondern auch tiefgreifende soziale Realitäten.

Soziale Verwerfungen im Schatten der Neubauten

Die gesellschaftlichen Folgen des Abriss-Neubau-Paradigmas sind verheerend. In Berlin-Kreuzberg, München-Giesing oder Hamburg-St. Pauli beobachten Sozialwissenschaftlerinnen und Stadtplaner identische Muster: Gewachsene Nachbarschaften werden zerrissen, soziale Netzwerke zerstört, bezahlbarer Wohnraum vernichtet. Eine 78-jährige Rentnerin aus Frankfurt-Bockenheim brachte es auf den Punkt: „Mit dem Abriss meines Hauses verschwand meine ganze Lebensgeschichte.”

Diese persönlichen Schicksale sind keine Einzelfälle, sondern systematische Konsequenzen einer fehlgeleiteten Stadtentwicklung. Studien der Humboldt-Universität zeigen: Bei Abriss und Neubau kehren nur 15 Prozent der ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner zurück. Die Mieten steigen durchschnittlich um 180 Prozent. Die Folge: eine schleichende soziale Entmischung, die unsere Städte in Wohlstandsinseln und Peripheriezonen spaltet.

Umbaukultur als demokratischer Prozess

Der Tag der Umbaukultur propagiert einen radikal anderen Ansatz. Umbau bedeutet Dialog – zwischen Architektinnen und Nutzern, zwischen Geschichte und Zukunft, zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. In Wuppertal transformierte eine Bürgerinitiative gemeinsam mit lokalen Architekten eine verlassene Textilfabrik in ein lebendiges Kulturzentrum. 300 Anwohnerinnen und Anwohner beteiligten sich an Planungsworkshops, brachten Ideen ein, packten beim Umbau mit an.

Solche partizipativen Prozesse erzeugen mehr als nur Gebäude – sie schaffen soziales Kapital. Menschen identifizieren sich mit ihrem Quartier, übernehmen Verantwortung, bilden Gemeinschaften. Die Soziologin Prof. Martina Löw bezeichnet dies als „räumliche Demokratisierung”: Der Raum wird zum Medium gesellschaftlicher Aushandlung.

Interkulturelle Brücken durch Bestandserhalt

In deutschen Großstädten leben Menschen aus über 190 Nationen. Ihre Bedürfnisse, Wohnkulturen und sozialen Praktiken unterscheiden sich fundamental. Der Erhalt und sensible Umbau bestehender Strukturen ermöglicht diese Vielfalt. Ein Plattenbau in Leipzig-Grünau wurde durch minimale Eingriffe zum interkulturellen Wohnprojekt: Gemeinschaftsküchen für Großfamilien, flexible Raumaufteilungen für unterschiedliche Wohnkonzepte, Gebetsräume neben Ateliers.

Neubauten folgen dagegen oft standardisierten Grundrissen, die primär mittelständische Kleinfamilien adressieren. Sie exkludieren systematisch alternative Lebensformen, Mehrgenerationenhaushalte oder gemeinschaftliche Wohnmodelle. Die Architektursoziologin Dr. Sandra Huning warnt: „Homogene Neubauviertel produzieren soziale Blindheit.”

Generationengerechtigkeit und demographischer Wandel

Deutschland altert rapide. Bis 2040 wird jeder dritte Bewohner über 65 Jahre alt sein. Diese demographische Revolution erfordert radikales Umdenken in der Stadtplanung. Der sensible Umbau bestehender Quartiere ermöglicht altersgerechte Anpassungen bei Erhalt sozialer Strukturen. Eine 82-jährige Münchnerin muss nicht ihr vertrautes Viertel verlassen, wenn ihre Altbauwohnung barrierefrei umgebaut wird. Der Bäcker kennt sie, die Nachbarin hilft beim Einkaufen, der Hausarzt ist um die Ecke.

Junge Architektinnen und Stadtplaner entwickeln innovative Konzepte: In Heidelberg entstand durch Umbau ein Mehrgenerationenhaus, in dem Studierende günstig wohnen und dafür Seniorinnen und Senioren unterstützen. Solche Modelle funktionieren nur im Bestand, wo gewachsene Strukturen unterschiedliche Generationen organisch zusammenführen.

Bezahlbarkeit als soziale Frage

Die Zahlen sind alarmierend: Neubauwohnungen kosten durchschnittlich 4.500 Euro pro Quadratmeter. Umbauten im Bestand: 1.800 Euro. Diese Differenz entscheidet über gesellschaftliche Teilhabe. Eine Krankenpflegerin, ein Busfahrer, eine Lehrerin – sie alle finden in Neubauvierteln keinen Platz mehr. Die Stadt wird zur Gated Community für Besserverdienende.

Umbaukultur durchbricht diese Logik. In Hamburg-Wilhelmsburg verwandelte eine Genossenschaft alte Speichergebäude in bezahlbaren Wohnraum. Die Miete liegt bei 7,50 Euro pro Quadratmeter – möglich durch intelligente Bestandsnutzung und solidarische Finanzierungsmodelle. 40 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner haben Migrationshintergrund, 30 Prozent sind alleinerziehend, 25 Prozent über 60 Jahre alt. Diese soziale Mischung ist kein Zufall, sondern Programm.

Identität und kollektives Gedächtnis

Gebäude sind Speicher kollektiver Erinnerung. Die Frankfurter Großmarkthalle, heute Teil der Europäischen Zentralbank, erzählt von Deportationen im Nationalsozialismus. Ihr Erhalt und ihre Transformation mahnen, informieren, schaffen Bewusstsein. Ein Abriss hätte diese Geschichte ausgelöscht.

Der Tag der Umbaukultur erinnert daran: In jedem Bestandsgebäude steckt „goldene Energie” – nicht nur materiell, sondern vor allem immateriell. Geschichten von Arbeitskämpfen in alten Fabriken, von Liebesgeschichten in Altbauwohnungen, von Gemeinschaft in Siedlungen der Nachkriegszeit. Diese narrative Dimension macht Städte lebenswert, schafft Zugehörigkeit, stiftet Identität.

Ausblick: Eine Bewegung formiert sich

Der 8. November 2025 könnte zum Kristallisationspunkt einer breiten gesellschaftlichen Bewegung werden. Bürgerinitiativen, Architektinnen, Handwerker und Politikerinnen – sie alle sind aufgerufen, die Umbaukultur sichtbar zu machen. Mit dem Hashtag #TagDerUmbaukultur entstehen digitale Netzwerke, die lokale Initiativen bundesweit verknüpfen.

Die Forderungen sind klar: Umbaurecht statt Abrissbirnen-Mentalität, Partizipation statt Top-Down-Planung, soziale Durchmischung statt Gentrifizierung. Der Innenarchitektur-Summit vom 7. bis 9. November in Berlin wird diese Themen vertiefen. Doch entscheidend bleibt die Basis: Menschen, die ihre Städte nicht den Investoren überlassen, sondern aktiv gestalten. Der Tag der Umbaukultur ist ihr Manifest.

Faktsheet: Veranstaltungen zum Tag der Umbaukultur 2025

Zentrale Veranstaltung: Innenarchitektur-Summit 2025

  • Titel: „Bestand transformieren, Räume neu denken!”
  • Datum: 7.-9. November 2025
  • Ort: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin
  • Veranstalter: BDIA (Bund Deutscher Innenarchitekten) in Kooperation mit der Bundesstiftung Baukultur
  • Schwerpunkte:
    • Transformation bestehender Gebäudestrukturen
    • Soziale Aspekte der Innenraumgestaltung
    • Partizipative Planungsprozesse
    • Best-Practice-Beispiele aus der Umbaupraxis

Aktionsformat: Social Media Kampagne #TagDerUmbaukultur

  • Datum: 8. November 2025
  • Plattformen: Instagram, LinkedIn, X (Twitter)
  • Aufruf: Teilen von Umbau-Projektbeispielen
  • Ziel: Bundesweite Sichtbarkeit für gelungene Umbauprojekte
  • Koordination: Bundesstiftung Baukultur

Hintergrund:

  • Initiierung: 8. November 2022 mit Vorstellung des Baukulturberichts „Neue Umbaukultur”
  • Jährliche Durchführung: Seit 2022 als fester Aktionstag etabliert
  • Kernbotschaft: Bestand birgt nicht nur graue, sondern „goldene Energie”
  • Fokus 2025: Besondere Betonung der sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen

Teilnahme-Möglichkeiten:

  1. Für Architekturbüros: Präsentation realisierter Umbauprojekte via Social Media
  2. Für Kommunen: Organisation lokaler Führungen durch Umbauprojekte
  3. Für Bürgerinitiativen: Dokumentation partizipativer Planungsprozesse
  4. Für Bildungseinrichtungen: Workshops und Diskussionsrunden zum Thema
  5. Für Handwerksbetriebe: Einblicke in traditionelle Umbautechniken

Vernetzung:

  • Website: www.bundesstiftung-baukultur.de
  • Instagram: @bundesstiftungbaukultur
  • LinkedIn: Bundesstiftung Baukultur
  • Hashtags: #TagDerUmbaukultur #NeueUmbaukultur #GoldeneEnergie

Kontakt für Rückfragen:

Bundesstiftung Baukultur
Schiffbauergasse 3
14467 Potsdam
Tel: 0331 / 20 12 59-0
E-Mail: mail@bundesstiftung-baukultur.de

Hinweis: Weitere lokale Veranstaltungen werden laufend auf der Website der Bundesstiftung Baukultur ergänzt. Eine Anmeldung eigener Aktionen ist erwünscht und kann über die genannten Kontaktdaten erfolgen.