Baukunst - Transformation gelungen: Wie Braunschweig sein Karstadt-Gebäude rettet
Braunschweig © unsplash/Jonathan Kemper

Transformation gelungen: Wie Braunschweig sein Karstadt-Gebäude rettet

25.05.2025
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Claudia Grimm

Adaptive Wiederverwendung in Braunschweig

Wie aus einem Karstadt-Gebäude ein Haus der Musik wird

In der Poststraße 4-5 von Braunschweig vollzieht sich derzeit eine bemerkenswerte architektonische Metamorphose. Das 1978 nach Entwürfen von Gottfried Böhm eröffnete und 2021 geschlossene Karstadt-Gebäude am Gewandhaus wird zum „Haus der Musik“ transformiert. Der siegreiche Entwurf des Kopenhagener und Hamburger Büros ADEPT zeigt beispielhaft, wie adaptive Wiederverwendung im regionalen Kontext funktionieren kann – ohne die charakteristische Handschrift eines Pritzker-Preisträgers zu negieren.

Böhms Erbe zwischen Gewandhaus und Brabandtstraße

Das ursprüngliche Gebäude entstand aus einem 1975 ausgeschriebenen beschränkten Architekturwettbewerb, in dem sich Gottfried Böhm zusammen mit seiner Ehefrau Elisabeth gegen prominente Mitbewerber der Braunschweiger Schule durchsetzte. Im Gegensatz zu den anderen Kaufhäusern der Braunschweiger Innenstadt, die als fensterlose Kuben in die Stadtlandschaft gesetzt wurden, entwickelte Böhm eine modulare Fassadenstruktur aus aufgeklappten Schiefer-Elementen, die dem Brutalismus eine regionale Handschrift verlieh.

Die Wahl des international renommierten Architekten war für das damalige Neckermann-Projekt durchaus ungewöhnlich. Böhm, der bereits durch seine expressiven Betonkirchen wie den Mariendom in Neviges bekannt geworden war, übertrug seine skulpturale Formensprache auf die profane Aufgabe des Warenhauses. Das Gebäude entstand auf einem Grundstück, auf dem bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine prachtvolle mittelalterliche Hofanlage gestanden hatte, was der Neubebauung zusätzliche städtebauliche Verantwortung auferlegte.

Regionale Planungskultur und Bürgerbeteiligung

Die Entstehung des „Hauses der Musik“ ist ein Paradebeispiel für die gewachsene Planungskultur in Niedersachsen. Der Wettbewerb war vom zwischenzeitlich verstorbenen Braunschweiger Unternehmer Friedrich Knapp ausgelobt und mit Unterstützung der Stadtverwaltung durchgeführt worden. Diese public-private Kooperation zwischen der Familie Knapp und der Stadt Braunschweig spiegelt die spezifischen Governancestrukturen wider, die sich in der niedersächsischen Kommunalpolitik etabliert haben.

Bemerkenswert ist die Zusammensetzung der Jury, die verschiedene Fachrichtungen und lokale Kompetenz vereinte: Von der Landesvorsitzenden des Bundes der Architekten Niedersachsen über die Akustik-Expertise aus München bis hin zur Leiterin der Städtischen Musikschule Braunschweig waren alle relevanten Akteurinnen und Akteure vertreten. Diese interdisziplinäre Herangehensweise charakterisiert die regionale Planungspraxis in Niedersachsen, die weniger auf spektakuläre Einzelentscheidungen als auf breiten Konsens setzt.

Schiefer als regionale Identität

ADEPTs Entwurf interpretiert Böhms modulare Fassadenstruktur neu und entwickelt sie weiter. Die neue Fassade erhält den modularen Rhythmus der Bestandsfassade, interpretiert diesen im Dialog mit der historischen Umgebung neu und wird in eine skulpturale, weiche Hülle überführt. Die Wahl des Schiefers als Fassadenmaterial ist dabei keineswegs zufällig: Das Material verbindet die regionale Bautradition Niedersachsens mit der internationalen Moderne.

Wie ein leichtes Kleid legt sich die Schieferfassade um das Gebäude, mal eng anliegend, mal wie durch einen Lufthauch bewegt, sanft gebogen und geöffnet, beschreibt das Preisgericht die neue Hülle. Diese poetische Beschreibung verweist auf einen Ansatz, der die regionale Materialkultur nicht nostalgisch verklärt, sondern zeitgenössisch interpretiert. Schiefer prägt die Baukultur des Harzes und seiner Vorländer seit Jahrhunderten – seine Verwendung in einem modernen Kulturgebäude schlägt eine Brücke zwischen Tradition und Innovation.

Funktionale Verdichtung als urbane Strategie

Das Raumprogramm des Hauses der Musik zeigt, wie kulturelle Infrastruktur in mittleren Städten organisiert werden kann. Das Projekt umfasst rund 18.000 m² kulturelle Fläche, darunter einen neuen Konzertsaal, eine öffentliche Musikschule sowie gemeinschaftlich nutzbare Räume für die Stadtgesellschaft. Diese Mischung aus Bildungs-, Aufführungs- und Begegnungsräumen entspricht den spezifischen Bedürfnissen einer Stadt wie Braunschweig, die als Oberzentrum für die Region fungiert, aber nicht die Ressourcen einer Großstadt besitzt.

Besonders innovativ ist das Konzept des „Dritten Ortes“, der zwischen den definierten Funktionen vermittelt. Im Zentrum der Transformation steht ein sogenannter „Dritter Ort“ – jener nicht klar definierte und überwiegend unprogrammierte Raum zwischen den Funktionen, der enormes Potenzial für eine neue Identität aus der lokalen Gemeinschaft heraus bietet. Dieser Ansatz reflektiert die gewandelte Rolle kultureller Einrichtungen, die nicht mehr nur Konsumorte für Hochkultur, sondern Produktionsstätten für lokale Kreativität sein sollen.

Städtebauliche Integration und regionale Besonderheiten

Baukunst - Transformation gelungen: Wie Braunschweig sein Karstadt-Gebäude rettet

Haus der Musik © Aesthetica Studio – ADEPT

Das Haus der Musik liegt an einer der wichtigsten Fußgängerachsen Braunschweigs und wird durch eine vollständig transparente Erdgeschossfassade sowie großzügige Terrassen und Foyers zum neuen kulturellen Knotenpunkt im städtischen Gefüge. Diese Positionierung ist typisch für die kompakte Struktur niedersächsischer Innenstädte, wo kulturelle Einrichtungen nicht in peripheren Kulturquartieren, sondern im Zentrum des städtischen Lebens angesiedelt werden.

Die Jury würdigte insbesondere die kontextuelle Einbindung: Der Entwurf respektiert Maßstab und Rhythmus der historischen Umgebung und bringt gleichzeitig einen neuen öffentlichen Ankerpunkt in die Altstadt. Diese Balance zwischen Bestandsrespekt und innovativer Weiterentwicklung charakterisiert die niedersächsische Planungskultur, die weniger auf radikale Brüche als auf behutsame Evolution setzt.

Konstruktive Herausforderungen und regionale Expertise

Die technische Realisierung des Projekts offenbart die spezifischen Kompetenzen der regionalen Baubranche. Die beiden oberen Geschosse werden ebenso zurückgebaut wie die vorhandenen Treppenhäuser. Die unteren Geschosse werden weitestgehend erhalten, die Lasteinleitung der Aufstockung / Konzertsaal erfolgt in die vorhandene Struktur der unteren Geschosse. Diese Kombination aus Rückbau und Aufstockung erfordert ingenieurstechnische Präzision, die in der Region zwischen Harz und Heide traditionell stark ausgeprägt ist.

Kritisch sieht das Preisgericht allerdings die filigrane Fassadenkonstruktion: Die Jury äußert die Sorge, dass die filigrane Konstruktion in der Umsetzung bestand hat. Diese Skepsis spiegelt die bodenständige Planungsmentalität der Region wider, die technische Innovationen nicht um ihrer selbst willen schätzt, sondern ihre Dauerhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund stellt.

Akustik als regionale Spezialität

Der neue Konzertsaal wird in den oberen Geschossen angeordnet, sodass möglichst viel von der vorhandenen Tragstruktur erhalten bleibt. Er folgt der klassischen „Schuhschachtel“-Typologie, mit besonderem Augenmerk auf akustische Klarheit und räumliche Intimität. Die Entscheidung für diese bewährte Konzerthalltypologie zeigt die pragmatische Herangehensweise niedersächsischer Planungskultur, die weniger auf spektakuläre Raumexperimente als auf bewährte Funktionalität setzt.

Die Einbindung von Professor Karlheinz Müller aus München als Akustik-Experte in die Jury unterstreicht die überregionale Bedeutung des Projekts. Gleichzeitig verweist sie auf die Notwendigkeit, für spezialisierte Planungsleistungen auf externe Expertise zurückzugreifen – ein typisches Merkmal mittelständisch geprägter Planungsregionen.

Finanzierung als regionales Governancemodell

Das Projekt wollen die Familie Knapp und die Stadt Braunschweig gemeinsam über eine Stiftung finanzieren. Dieses Finanzierungsmodell ist charakteristisch für die niedersächsische Planungskultur, die auf die Kooperation zwischen privatem Mäzenatentum und öffentlicher Hand setzt. Anders als in Großstädten, wo kulturelle Großprojekte oft allein aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, sind mittelgroße Städte auf die Kombination verschiedener Finanzierungsquellen angewiesen.

Die geplante Stiftungsstruktur ermöglicht dabei eine langfristige Absicherung des Betriebs, die über den üblichen Planungshorizont kommunaler Politik hinausreicht. Ziel ist es, Finanzplanung und Stiftungssatzung bis Ende 2025 den politischen Gremien zur Entscheidung vorzulegen. Dieser Zeitplan zeigt die bedächtige, aber zielgerichtete Herangehensweise regionaler Planungspraxis.

Herausforderungen der Transformation

Nicht alle Aspekte des Entwurfs überzeugten das Preisgericht uneingeschränkt. Die Anlieferung wirkt beengt und könnte zu Probleme beim rückwärtsfahren in der Brabandtstraße führen, da der ÖPNV und jeglicher Verkehr angehalten werden müssten. Diese scheinbar technische Kritik verweist auf ein grundsätzliches Problem der Innenstadtentwicklung in historisch gewachsenen Stadtstrukturen: Die Anforderungen moderner Kulturbauten lassen sich nicht immer konfliktfrei in gewachsene urbane Gefüge integrieren.

Der Konzertsaal ist mit 29 m akustisch deutlich zu breit und sollte auf ca. 24 m reduziert werden, moniert die Jury außerdem. Diese fachliche Kritik zeigt, dass auch prämierte Entwürfe in der Überarbeitungsphase noch erhebliche Anpassungen erfahren müssen.

Ausblick: Regionale Vorbildfunktion

Das Braunschweiger Haus der Musik könnte wegweisend für die adaptive Wiederverwendung von Nachkriegsbauten in deutschen Innenstädten werden. Die Verfassenden würdigen das ehemalige Karstadt-Gebäude als kulturelles Wahrzeichen der Stadt. Gleichermaßen behutsam wie aber auch mutig entschlossen, transformieren sie den Bestand durch ´adaptive Wiederverwendung´ in ein wichtiges Bestandteil für die Braunschweiger Innenstadt.

Der Ansatz zeigt, dass die oft als „Betonmonster“ gescholtenen Bauten der 1970er Jahre durchaus Potenzial für zeitgemäße Nutzungen besitzen – vorausgesetzt, sie werden mit architektonischer Sensibilität und technischer Kompetenz transformiert. Für andere niedersächsische Kommunen, die vor ähnlichen Herausforderungen leerstehender Innenstadtimmobilien stehen, könnte das Braunschweiger Projekt Modellcharakter entwickeln.

Die regionale Planungskultur Niedersachsens erweist sich dabei als Vorteil: Die Kombination aus bürgerschaftlichem Engagement, kommunaler Unterstützung und fachlicher Expertise schafft Rahmenbedingungen, unter denen ambitionierte Projekte auch in mittleren Städten realisiert werden können. Das Haus der Musik wird zeigen, ob dieser regional geprägte Ansatz auch überregionale Strahlkraft entwickeln kann.