
Eine kuratierte Reise durch die außergewöhnlichsten Visionen Venedigs
Nach vier Jahrzehnten, in denen ich Architekturbiennalen durchstreift habe, weiß ich: Nicht jede Edition brennt sich ins Gedächtnis. Diese schon. Carlo Rattis Intelligens mag zunächst wie eine Tech-Bro-Fantasie klingen, doch wer genauer hinsieht, entdeckt eine überraschend sinnliche, ja geradezu haptische Auseinandersetzung mit der Zukunft des Bauens. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, was Sie auf keinen Fall verpassen sollten – meine ganz persönliche Auswahl jener Momente, die das Herz höherschlagen lassen und den Geist beflügeln.
Erste Station: Bahrains thermische Poesie
Beginnen Sie Ihren Rundgang unbedingt am späten Nachmittag im Arsenale, wenn das Licht durch die hohen Fenster fällt. Bahrains Heatwave – zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet – ist keine Installation, die man betrachtet. Man bewohnt sie. Legen Sie sich auf eines der überdimensionierten Kissen, schließen Sie die Augen und spüren Sie, wie die kühle Brise über Ihre Haut streicht. Andrea Faraguna hat hier etwas Magisches geschaffen: Eine Architektur, die nicht monumentalisiert, sondern umsorgt. Die schwebende Decke, inspiriert von persischen Windtürmen, transformiert brutale Hitze in sanfte Kühlung – ein Manifest für thermische Gerechtigkeit, das jeden Bauarbeiter in Doha, jeden Schulhof in Phoenix betrifft.
Warum es meine Wahl ist: Weil Architektur hier zur körperlichen Erfahrung wird. Weil es nicht um Spektakel geht, sondern um Fürsorge.
Zweite Station: Das vulkanische Erwachen Islands
Verlassen Sie die ausgetretenen Pfade und finden Sie Islands Pavillon in der ehemaligen Feuerwache der Berengo-Glasmanufaktur. Lavaforming katapultiert Sie ins Jahr 2150, wenn Isländerinnen und Isländer Vulkankraft so selbstverständlich nutzen wie heute Geothermie. Die Installation vibriert förmlich – man meint, das geschmolzene Gestein unter den Füßen zu spüren. Arnhildur Pálmadóttir hat keine Zukunftsvision entworfen, sondern eine Zeitmaschine gebaut.
Warum es meine Wahl ist: Weil hier Zerstörung zur Schöpfung wird. Weil es zeigt, dass unsere größten Ängste unsere größten Chancen sein können.
Dritte Station: Belgiens atmende Intelligenz
Der belgische Pavillon in den Giardini ist ein Dschungel. Über 200 Pflanzen verwandeln den Raum in eine Biosphäre, in der Architektur nicht gebaut, sondern gewachsen ist. Bas Smets und der Botaniker Stefano Mancuso lassen Pflanzenintelligenz zum Co-Designer werden. Die Luftfeuchtigkeit legt sich auf die Haut, der Sauerstoffgehalt macht leicht schwindelig – man atmet buchstäblich Zukunft. Zwischen den Blättern versteckt: Sensoren, die in Echtzeit messen, wie die Pflanzen das Mikroklima regulieren.
Warum es meine Wahl ist: Weil es die radikalste These der Biennale verkörpert – dass nicht-menschliche Intelligenz die besseren Architekten sein könnten.
Vierte Station: Togos verborgener Schatz
Hinter einem unscheinbaren Secondhand-Möbelladen in Castello versteckt sich Togos erster Biennale-Auftritt – und was für einer! Studio NEiDA hat einen architektonischen Stammbaum Westafrikas gezeichnet, von Nôk-Höhlenwohnungen über afro-brasilianische Rückkehrer-Architektur bis zum brutalistische Erbe der Unabhängigkeit. Die Fassade, verhüllt von einem Schleier aus kenianischen Glasperlen und landwirtschaftlichen Abfallbriketts, schimmert im Nachmittagslicht wie eine Fata Morgana. Innen: Ein Parcours durch Jahrhunderte, der zeigt, dass Afrika nicht nur Zukunft ist, sondern eine reiche architektonische Vergangenheit besitzt.
Warum es meine Wahl ist: Weil es unseren eurozentrischen Blick demontiert. Weil es zeigt, dass Innovation nicht immer aus dem Silicon Valley kommen muss.
Fünfte Station: Die Alchemie des Canal Café
Diller Scofidio + Renfros Canal Café hätte leicht zur Technik-Demo verkommen können. Ist es aber nicht. Die Installation, die Kanalwasser in Espresso verwandelt, ist pure Poesie. Setzen Sie sich an die Bar, bestellen Sie einen Cappuccino und wissen Sie: Dieses Wasser war vor Stunden noch in der Lagune. Die Transformation von Brackwasser zu Trinkwasser, serviert in einer Porzellantasse, ist die eleganteste Metapher der Biennale für Venedigs Zukunft – und die unserer Küstenstädte weltweit.
Warum es meine Wahl ist: Weil es das Unmögliche möglich macht. Weil es zeigt, dass Technologie Poesie sein kann.
Sechste Station: Der Nordische Körperraum
Sverre Fehns Nordic Pavilion wird zur Bühne für eine der bewegendsten Installationen der Biennale. Teo Ala-Ruonas Industry Muscle erforscht Trans-Körper als Architektur. Finnischer Marmor aus Aaltos Finlandia-Halle liegt in Fragmenten am Boden, Performerinnen und Performer bewegen sich durch den Raum, ihre Körper werden zu tragenden Elementen, zu Wänden, zu Öffnungen. Es ist verstörend und wunderschön zugleich.
Warum es meine Wahl ist: Weil es Architektur neu definiert – nicht als Container für Körper, sondern als Verlängerung derselben.
Siebte Station: Großbritanniens geologische Beichte
Der britische Pavillon (mit einer Special Mention ausgezeichnet) gräbt tief – buchstäblich. Cave_bureaus Installation mit dem sperrigen Titel GBR – Geology of Britannic Repair ist eine Zusammenarbeit mit kenianischen Architektinnen und Architekten, die koloniale Extraktionsgeschichten ausgräbt. Die Wände sind mit Erdproben aus dem Rift Valley bedeckt, Bronze-Abgüsse der Shimoni-Sklavenhöhlen hängen von der Decke. Es ist unbequem, es tut weh – und genau das macht es so wichtig.
Warum es meine Wahl ist: Weil Architektur hier Verantwortung übernimmt. Weil es zeigt, dass Bauen immer auch Wegnehmen bedeutet.
Die Geheimtipps
Der Heilige Stuhl verwandelt eine entweihte Kirche in eine permanente Baustelle der Transformation. Opera Aperta lässt Besucherinnen und Besucher zusehen, wie Restauratoren arbeiten, wie aus Zerstörung Neues entsteht.
Die Schweiz stellt die Geschichtsschreibung auf den Kopf: Was wäre, wenn Lisbeth Sachs statt Bruno Giacometti gebaut hätte? Eine feministische Architekturgeschichte, die nie geschrieben wurde – bis jetzt.
Singapur feiert 60 Jahre Unabhängigkeit mit einem Pavillon, der die Stadt als gemeinsamen Esstisch inszeniert. RASA-TABULA-SINGAPURA riecht nach Gewürzen, klingt nach Gesprächen, schmeckt nach Zukunft.
Die Überraschung: Venedig selbst
Das eigentliche Wunder dieser Biennale ist, wie die Stadt selbst zum Exponat wird. In versteckten Palazzi, vergessenen Lagerhallen, auf schwimmenden Plattformen entstehen Interventionen, die Venedig nicht als Kulisse nutzen, sondern als Co-Autorin. Die Ausstellung Intelligent Venice in der Fondazione Venezia Capitale Mondiale della Sostenibilità liest die Stadt als tausendjähriges Experiment nachhaltigen Bauens – die erste Smart City der Geschichte, gebaut auf Pfählen, lebend mit den Gezeiten.
Mein Fazit: Die Rückkehr des Fühlens
Diese Biennale markiert einen Wendepunkt. Nach Jahren der Parametrik, der Algorithmen, der digitalen Renderings kehrt die Architektur zu ihren sinnlichen Wurzeln zurück. Ja, hier rollen Roboter durch die Corderie, ja, KI generiert Entwürfe in Echtzeit. Aber die stärksten Momente sind die haptischen: Bahrains kühlende Brise, Islands vibrierende Hitze, Belgiens feuchte Luft, Togos schimmernde Perlen.
Carlo Rattis Intelligens ist keine Technikschau geworden, sondern eine Meditation über kollektive Kreativität. Die wahre Intelligenz dieser Biennale liegt nicht in spektakulären Einzelleistungen, sondern im Zusammenklang: 65 Nationen, die gemeinsam an einer Antwort arbeiten auf die Frage, wie wir in einer brennenden Welt nicht nur überleben, sondern leben können.
Meine dringende Empfehlung: Nehmen Sie sich drei Tage Zeit. Einen für die großen Namen, einen für die versteckten Schätze, einen, um sich zu verlaufen. Tragen Sie bequeme Schuhe und lassen Sie das Smartphone in der Tasche. Diese Biennale will nicht fotografiert, sondern gefühlt werden.

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