Revolution auf der Baustelle: Warum die Architektur von morgen das Einfamilienhaus in Frage stellt
Die Baubranche steht vor einem Wendepunkt: Weltweit verursacht sie rund 50 Prozent der CO2-Emissionen. Eine alarmierende Zahl, die zum Handeln zwingt. „Wir müssen die Architektur komplett neu denken“, fordert Prof. Andrea Rieger-Jandl von der Technischen Universität Wien. Die renommierte Bauforscherin leitet den ersten österreichischen Masterstudiengang für „Green Building“ und spricht damit aus, was viele in der Branche nur hinter vorgehaltener Hand diskutieren.
Der Mythos vom Eigenheim
Das Einfamilienhaus – der Traum vieler Menschen – steht dabei besonders in der Kritik. „Es ist kein Menschenrecht“, stellt Rieger-Jandl in einem Interview mit “DER Standart” klar. Stattdessen plädiert sie für verdichtetes Bauen, auch in ländlichen Regionen. Ein provokanter Ansatz, der jedoch überzeugt: Mehrgenerationenhäuser mit flexiblen Gemeinschaftsflächen könnten nicht nur ökologische, sondern auch soziale Vorteile bieten.
Die Beton-Falle
Besonders kritisch sieht die Expertin den Einsatz von Beton. Die Zementproduktion allein ist für etwa zehn Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. „Die Werbung, die Beton als nachhaltig verkauft, ist nichts anderes als Greenwashing“, kritisiert sie. Als Alternative empfiehlt sie traditionelle Materialien wie Lehm – ein Baustoff, der sich beispielsweise beim Lärmschutz als überraschend effektiv erweist.
Von linear zu zirkulär
„Die Architektur denkt bisher linear“, erklärt Rieger-Jandl. „Wir brauchen aber ein zirkuläres Kreislaufdenken.“ Das bedeutet: Vorhandene Bausubstanz erhalten, regenerative Baustoffe einsetzen und bei Abriss Materialien weiterverwenden. Ein Konzept, das die Baubranche grundlegend verändern würde.
Hindernisse in der Politik
Die größte Hürde sieht die Expertin in veralteten Bauvorschriften. Ein Beispiel: In Österreich darf Bauaushub nicht direkt vor Ort zu Lehm verarbeitet werden – ein ökologischer Unsinn, der dem Transport- und Baugewerbe in die Hände spielt. Im Forschungsprojekt „Green Sandbox Builder“ werden deshalb neue Regelungen erprobt.
Ausblick
Die Zeit drängt, doch Veränderungen brauchen Zeit. „Bis sich Wohnträume ökologisch nachhaltiger verwirklichen lassen, werden noch fünf bis zehn Jahre vergehen“, schätzt Rieger-Jandl. Eine realistische Einschätzung, die zeigt: Der Weg zur nachhaltigen Architektur ist steinig, aber alternativlos.
Aktuelle Position
Prof. Andrea Rieger-Jandl verantwortet seit März 2024 den Masterstudiengang „Architektur – Green Building“ an der Fachhochschule Campus Wien – der erste Studiengang Österreichs, der sich explizit den Fragen ökologischer Nachhaltigkeit in der Architektur widmet. Gleichzeitig ist sie Professorin für Baugeschichte und Bauforschung an der Technischen Universität Wien sowie Vorsitzende des „Netzwerks Lehm„, das sich für die Förderung des Lehmbauseinsetzt.
Diese Funktionen unterstreichen ihre Expertise im Bereich des nachhaltigen Bauens und ihre zentrale Rolle bei der Ausbildung künftiger Architektinnen und Architekten im Sinne einer ökologischen Baukultur.