
Architektur im Anthropozän: Notwendige Kritik oder destruktive Fortschrittsverweigerung?
Architektur als Krisensymptom
Friedrich von Borries, Architekt und Theoretiker, stellt in seinem neuen Buch Architektur im Anthropozän: Eine spekulative Archäologie die gewohnten Prämissen des Bauens radikal infrage. Seine zentrale These: Architektur ist nicht nur Gestaltungsdisziplin, sondern auch Symptom und Verstärker der großen Krisen unserer Zeit. Bauen sei per se ein destruktiver Akt, der untrennbar mit Ressourcenverbrauch, Flächenversiegelung und klimatischen Auswirkungen verbunden ist.
Dabei geht von Borries weit über eine klassische Architekturkritik hinaus. Mit einer Methode, die er als „spekulative Archäologie“ bezeichnet, nimmt er die Perspektive einer fiktiven Zukunft ein, die auf die heutige Architektur als ein Relikt der Zerstörung blickt. Das Ergebnis ist ein ebenso scharfsinniger wie provokativer Essay über die Fehlentwicklungen unserer gebauten Umwelt.
Technofossilien und das Psychogramm der Moderne
Von Borries argumentiert, dass unsere gegenwärtige Architektur nicht einfach als kulturelle Leistung, sondern als „Technofossil“ betrachtet werden muss. Betonhochhäuser, Rechenzentren, Malls und Einfamilienhäuser seien die Sedimente des Kapitalozäns – materielle Spuren einer Wirtschaftsordnung, die auf Expansion und Ausbeutung basiert. Dabei zeigt er auf, wie sich urbane Strukturen als Spiegelbild gesellschaftlicher Triebkräfte lesen lassen: Während die Zentren der Städte als Repräsentationen von Wohlstand und Macht fungieren, lagert sich das Unbequeme – etwa Mülldeponien oder industrielle Mastanlagen – an die Ränder der Gesellschaft aus.
Die Architekturgeschichte werde oft als Fortschrittserzählung verstanden: vom klassischen Tempel zur gotischen Kathedrale, von der Moderne zum High-Tech-Bauen. Doch was bleibt tatsächlich? In von Borries‘ Szenario wird das, was wir heute als architektonische Meisterwerke feiern, künftigen Archäologen vor allem als Zeugnis für Umweltzerstörung und sozialen Bruch erscheinen.
Das Ende der Wachstumsillusion
Ein zentrales Argument des Buches ist, dass das Konzept des immerwährenden Bauens überdacht werden muss. Von Borries stellt die provokante Frage: Sollten wir nicht weniger, anstatt immer mehr zu bauen? Während viele Nachhaltigkeitskonzepte auf die Wahl alternativer Materialien oder energieeffiziente Technologien setzen, argumentiert er, dass dies lediglich Symptombehandlung sei. Denn der Kern des Problems sei nicht, wie wir bauen, sondern dass wir überhaupt immer weiter bauen. Selbst der Bau nachhaltiger Gebäude verbrauche Ressourcen und trage zur Versiegelung von Flächen bei.
Diese radikale Position setzt sich auch im politischen Kontext fort. Von Borries kritisiert die neoliberale Stadtpolitik, die Wachstum als oberste Maxime propagiert. Besonders am Beispiel der autogerechten Stadt Los Angeles verdeutlicht er, wie die Expansion von Straßennetzen, Einfamilienhaussiedlungen und Shopping-Malls nicht nur die Umwelt belastet, sondern auch die soziale Ungleichheit verschärft.
Die Illusion technischer Lösungen
Der Glaube an technologische Innovationen als Allheilmittel für die Klimakrise wird von Borries ebenfalls angegriffen. Vertikale Gärten, Holzhochhäuser oder CO2-bindender Beton seien zwar gut gemeinte Ansätze, lenkten aber von der eigentlichen Problematik ab: der schieren Menge an Bauaktivität. „Die Zukunft der Architektur liegt nicht in der High-Tech-Rettung, sondern im Verzicht,“ so eine zentrale Aussage.
In diesem Zusammenhang kritisiert er auch Stararchitekten wie Bjarke Ingels, die mit futuristischen Konzepten wie schwimmenden Städten auf den Klimawandel reagieren wollen. Diese wären letztlich nichts anderes als „Perversionen des Machbarkeitswahns“, die suggerieren, dass wir unsere Probleme einfach mit besseren Designs lösen können.
Neue Perspektiven: Architektur der Reduktion
Stattdessen plädiert von Borries für eine Architektur der Bescheidenheit: kleinflächige Wohnformen, temporäre Strukturen und eine verstärkte Integration natürlicher Kreisläufe. In historischen Beispielen wie mittelalterlichen Beginenhöfen oder der japanischen Kyosho-Jutaku-Tradition sieht er mögliche Modelle für eine Post-Wachstumsarchitektur.
Fazit: Notwendige Provokation oder pessimistische Verweigerung?
Mit Architektur im Anthropozän liefert Friedrich von Borries eine gleichermaßen faszinierende wie unbequeme Abrechnung mit den Grundannahmen der Baukultur. Seine Analysen sind fundiert und seine Argumente provokant. Doch bleibt die Frage: Ist der von ihm geforderte radikale Verzicht realistisch? Oder bleibt er letztlich in einer Utopie des „Nichtbauens“ gefangen? Was feststeht: Das Buch regt zum Nachdenken an – und genau das macht es so wertvoll.

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