Baukunst-Weniger Abriss, mehr Gewinn: Warum Reuse den Baualltag revolutioniert
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Weniger Abriss, mehr Gewinn: Warum Reuse den Baualltag revolutioniert

20.02.2025
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Ignatz Wrobel

Das Ende der Wegwerf-Architektur – eine Spurensuche

Die Ressourcenknappheit hat die Bauindustrie in den vergangenen Jahren fest im Griff. Steigende Kosten, engere Vorschriften und wachsendes Umweltbewusstsein haben das Thema Wiederverwendung von Baumaterialien zum Dauerbrenner gemacht. Ein Blick zurück zeigt, wie rasch sich dieser Ansatz entwickelt hat: 2012 lenkte der deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig mit der Ausstellung „Reduce, Reuse, Recycle. Ressource Architektur“ erstmals in großem Stil die Aufmerksamkeit auf Bestandsbauten, deren Potenzial allzu oft im Container landet. Exakt 13 Jahre später steht fest, dass die Kreislaufidee an Fahrt aufnimmt – doch alte Gewohnheiten sterben langsam. Wo also liegt das Bauwesen heute, und welche rechtlichen und moralischen Hindernisse bremsen eine umfassende Kreislaufwirtschaft?

Rückblick: „Reduce, Reuse, Recycle“ (2012)

Im Jahr 2012 sorgte der deutsche Beitrag unter Kurator Muck Petzet auf der Architekturbiennale für kontroverse Debatten. Mit dem Dreiklang „Reduce, Reuse, Recycle“ war ein Slogan geboren, der nicht nur Architektinnen und Architekten, sondern auch Städteplanerinnen und Städteplaner aufhorchen ließ. Damals standen 16 ausgewählte Umbau- und Sanierungsprojekte im Fokus, die aufzeigten, wie Baubestand als wertvolle Ressource dienen kann. Die Vision war simpel: Abriss vermeiden und stattdessen mit minimalen Eingriffen mehr erzielen. Zugleich gab es Kritik, das Ganze bleibe zu theoretisch und stelle eher eine ästhetische Schau dar als eine praktikable Antwort auf die drängenden Fragen massenhafter Wohnraumsanierungen. Trotzdem half die Präsentation dabei, das Thema Wiederverwendung in den Diskurs zu rücken.

Vom Pilotprojekt zur Bewegung

Spätestens seitdem werden vermehrt Pilotprojekte ins Leben gerufen, die Reuse in die Baupraxis übersetzen. In französischen Städten wie Grenoble hat man selektive Dekonstruktion als Alternative zum klassischen Abriss getestet. Eine ehemalige Militärklinik wurde dort in Handarbeit zurückgebaut, um Stahlträger, Fensterglas, Holzbalken und sogar Türgriffe zu retten. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Bis zu 98 Prozent des Materials fanden eine zweite Verwendung, während CO₂-Emissionen um ein Vielfaches sanken. Ähnliche Vorgehensweisen prägen mittlerweile Vorhaben in San Antonio (Texas) oder Boulder (Colorado), wo gesetzliche Dekonstruktionsverordnungen auf kommunaler Ebene verankert wurden. Ein subtiler Humor blitzt manchmal auf, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter eine Fensterverglasung liebevoll demontieren, statt sie spektakulär mit der Abrissbirne zu zertrümmern – doch jenseits dieser heiteren Bilder steckt harte Arbeit und logistischer Aufwand, den es zu meistern gilt.

Reuse-Zentren in europäischen Städten

In Berlin führt die Kampagne „Re-Use Berlin“ zu neu entstehenden Zentren, die ähnlich wie Materialbörsen Bauteile zwischenlagern, aufbereiten und preiswert anbieten. Wer den Glanz neuer Kacheln erwartet, muss sich daran gewöhnen, dass gebrauchte Fliesen eine andere Patina mitbringen können. Gerade darin liegt jedoch ein gestalterischer Reiz: Bauen mit Geschichte. Diese Zentren sind meist kommunal gefördert und dienen als Treffpunkt für Planerinnen und Planer, Handwerkerinnen und Handwerker sowie Privatpersonen. Sie ermöglichen ein direktes Kennenlernen von Materialqualität und -mengen und ebnen damit den Weg für spontane Lösungen in Bauprojekten. So verleiht eine 30 Jahre alte Stahltreppe, die nach erfolgreichem Ausbau in einem Berliner Hinterhof nun im nächsten Loft ihren Dienst tut, dem Thema Reuse eine sehr konkrete Form.

Wo liegen die rechtlichen Hürden?

Trotz vieler Fortschritte sind rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland wie auch in anderen Ländern häufig unzureichend auf Kreislaufwirtschaft ausgerichtet. Gesetzliche Vorgaben zu Brandschutz, Statik oder Gewährleistunglassen wiederverwendeten Bauteilen oft wenig Spielraum. Zwar existieren in Frankreich erste Erfahrungen mit dem sogenannten AGEC-Gesetz, das die Sammel- und Wiederaufbereitungsquote für Baumaterialien sukzessive steigert. Im EU-Kontext wird ebenfalls ein Kreislaufwirtschaftspaket diskutiert, das ab 2024 strengere Vorgaben machen könnte. Doch eine europaweite Harmonisierung fehlt, was den internationalen Handel mit wiederaufbereiteten Baustoffen erschwert. Hinzu kommt der Bedarf an Materialpässen: Ein Fenster aus den 1990er-Jahren in Hamburg muss erst einmal nachweisen, dass es die geltenden Standards erfüllt, bevor es in München erneut eingebaut werden kann. Hier ist viel Pioniergeist gefragt, auch wenn sich langsam Normen und Zertifikate durchzusetzen beginnen.

Moralische Perspektiven: Von Skepsis bis Begeisterung

Ein interessanter Aspekt sind die moralischen Hürden, die sich im Bausektor zeigen. Bauherrinnen und Bauherren, die das schicke Markenprodukt aus dem Katalog bevorzugen, sehen gebrauchtes Material oft als minderwertig an. Dahinter stehen auch Prestigeaspekte und die Sorge, gebrauchte Bauteile könnten zu einer Abwertung des Immobilienwerts führen. Gleichzeitig gibt es etliche Fälle, in denen Investierende aus Überzeugung auf Kreislaufstrategien setzen: So werden Holzbalken aus alten Industriehallen liebevoll aufgearbeitet und in modernste Wohnbauten integriert, was gerade im gehobenen Segment architektonisch reizvolle Ergebnisse erzielt. Subtiler Humor ist spürbar, wenn eine fein geschliffene „Vintage-Treppe“ in einer mondänen Penthousewohnung die Blicke auf sich zieht. Plötzlich wird „Used-Look“ zum Luxusattribut.

Neue Impulse von der Biennale 2023

Auf der Architekturbiennale 2023 in Venedig setzt der deutsche Pavillon unter dem Motto „Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet“ genau dort an, wo „Reduce, Reuse, Recycle“ einst den Nerv traf. Noch konsequenter steht das Thema Kreislaufbau im Zentrum: Von der digitalen Materialdatenbank bis zur Mitarbeit lokaler Handwerksbetriebe entsteht ein Werkstattcharakter, der nicht nur Ausstellungsfläche, sondern tatsächliche Reparatur- und Weiterverwendungsstätte ist. Dort wird sichtbar, dass Architektinnen und Architekten längst nicht nur entwerfen, sondern auch Teil eines großen Reparaturteams werden. Gleichzeitig fließen feministische Perspektiven auf Care-Arbeitein, indem das Warten, Pflegen und Umarbeiten von Bestandsstrukturen als zutiefst gesellschaftliche Aufgabe begriffen wird. Hier zeigt sich, dass Reuse viel mehr ist als nur eine technische Anpassung – es ist auch ein kultureller Wandel.

Wirtschaftlichkeit und Beschäftigung

Oft wird argumentiert, selektive Dekonstruktion sei zu zeitaufwendig und daher unrentabel. Doch mehrere Studien, etwa vom Circular Construction Lab der Cornell University, belegen, dass die gesammelten Sekundärrohstoffe durchaus wirtschaftliche Vorteile bieten. Neben Einsparungen bei Entsorgungskosten eröffnet sich ein Markt für hochwertige Gebrauchtmaterialien. So kann eine Stadtverwaltung das Geld für Deponiegebühren sparen und stattdessen in lokale Handwerksbetriebe investieren, die auf Aufbereitung und Vermarktung spezialisiert sind. Dies schafft Arbeitsplätze und stärkt regionale Wirtschaftskreisläufe – ein positiver Nebeneffekt, der auch sozialpolitische Dimensionen berührt. Höhere Zeitkosten relativieren sich, wenn sie durch geringere Neubaukosten und vermiedene Entsorgungsgebühren kompensiert werden.

Zukunft: „Design for Deconstruction“

Damit Wiederverwendung keine kurzfristige Mode bleibt, entwickeln immer mehr Büros Strategien wie „Design for Deconstruction“: Gebäude werden so konzipiert, dass sie sich leichter in ihre Einzelteile zerlegen lassen. Modulare Systeme und sortenreine Materialien spielen dabei eine wesentliche Rolle. Bauherrinnen und Bauherren, die mutig planen, erhalten am Ende ein Projekt, das sich an neue Nutzungen anpassen lässt – eine nachhaltige Perspektive für Städte, die in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen und sich zugleich dringend den klimapolitischen Zielen annähern müssen.

Fazit: Reuse als Chance, nicht als Last

Dreizehn Jahre nach „Reduce, Reuse, Recycle. Ressource Architektur“ ist klar, dass Wiederverwendung kein Nischenthema mehr ist. Viele Kommunen haben erkannt, dass sich damit Abfall reduzieren, Ressourcen schonen und zugleich soziale Mehrwerte schaffen lassen. Pilotprojekte in Frankreich, den USA und auch in Deutschland legen nahe, dass selektive Dekonstruktion und sinnvolle Weiternutzung von Baumaterialien keine Utopie bleiben müssen, sondern bereits Realität sind. Es braucht aber politische Weichenstellungen und ein Umdenken in der Branche, um Reuse flächendeckend zu etablieren. Wer sich einmal auf den Weg gemacht hat, stellt oft fest, dass altes Holz oder gebrauchte Ziegel nicht bloß „Mangelware“ sind, sondern einen eigenen Charme entwickeln – ganz ohne die Abrissbirne, dafür mit viel Respekt für das bereits Geschaffene.