Baukunst-Wie ein Dorf im Nahetal Deutschlands Baugeschichte für die Zukunft bewahrt
Sobernheim? © Baukunst.art

Wie ein Dorf im Nahetal Deutschlands Baugeschichte für die Zukunft bewahrt

24.10.2025
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Claudia Grimm

Die Architektur der Erinnerung

Im Nahetal bei Bad Sobernheim hat sich eine Region bewahrt, in der architektonische Zeugnisse mehrerer Jahrhunderte nebeneinander bestehen – nicht als museale Kuriosa, sondern als aktive Schauplätze einer gelebten Baukultur. Das Freilichtmuseum Rheinland-Pfalz und der Disibodenberg verkörpern zwei Facetten dieser Strategie: Während das Museum Bausubstanz konserviert, die sonst verloren wäre, versucht die Klosterstiftung, historische Räume für zeitgenössische Nutzungen zu erschließen. In beiden Fällen geht es um mehr als Denkmalpflege – es geht um die Frage, wie Gesellschaften ihre architektonische DNA bewahren.

Handwerk im Freilichtmuseum: Fachwerkbau als regionaler Standard

Das vor 50 Jahren gegründete Freilichtmuseum auf 35 Hektar versammelt etwa 40 Bauernhöfe und Handwerksbetriebe – ein Querschnitt durch die vorindustrielle Architektur der Region. Diese Gebäude, gerettet vor Abriss oder Verfall, stammen aus Eifel, Westerwald, Hunsrück, Pfalz und Rheinhessen. Was fasziniert an diesen Strukturen architektonisch?

Die Fachwerkbauten erzählen von einer Ökonomie der Materialien. Der charakteristische Holzrahmen mit gefachtem Leichtlehm war nicht ästhetisch gemeint, sondern praktisch: Er nutzte das verfügbare Material (Holz aus lokalen Wäldern) optimal aus und ermöglichte schnelle, kostengünstige Erstellung. Die Architekturform folgt funktionaler Notwendigkeit. Dennoch entstanden dabei proportional ausgewogene, in ihrer Bescheidenheit elegante Bauten. Das Satteldach mit Ziegeln, die charakteristische Ausrichtung der Fenster zur Südseite – jedes Detail rationales Ergebnis eines handwerklichen Wissens, das sich über Generationen sedimentierte. Im Museum werden diese Bauten vornehmlich zu besonderen Anlässen „belebt”, wenn Backen, Weben oder Schmieden vorgeführt werden. Das ist aus konservatorischer Sicht kritisch zu sehen: Die Gebäude sind dann weniger lebender Handwerksraum, mehr Schauplatz. Doch praktisch gibt es oft keine Alternative, wenn moderne Nutzungen fehlen.

Der Disibodenberg: Klosterarchitektur zwischen Ruine und Restauration

Eine andere architektonische Herausforderung stellt der benachbarte Disibodenberg dar. Das Kloster, gegründet im 7. Jahrhundert, erlebte seine bauliche Blüte zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert. Die Hauptsubstanz – Basilika, Kreuzgang, Kapitelsaal, Klausur – stammte von Zisterzienser-Baumeistern, die nach strikten funktionalen Prinzipien arbeiteten. Nach Säkularisation und Verkauf zur Abbruchreife blieb von dieser mächtigen Anlage nur fragmentarisch Substanz erhalten.

Seit 1989 versucht die Scivias-Stiftung das Vermächtnis wiederherzustellen – eine Strategie der Ruinen-Archäologie im 21. Jahrhundert. Das augenfälligste Rekonstruktionsprojekt war die Wiedererrichtung des 40 Meter langen Gästehauses (Hospiz). Doch hier offenbaren sich die Grenzen: Klausur, Basilika und Kreuzgang wurden „in Grundzügen aufgemauert und begrünt”, wie es beschönigend heißt. Steine und Bäume wirken „wie miteinander verwachsen”. Das ist historische Romantisierung – wobei nicht kritisiert werden soll, dass der Klosterruine neue Konturen gegeben wurden. Vielmehr zeigt sich hier eine architektonische Schizophrenie: Ist das Ziel die akkurate Rekonstruktion historischer Bauformen, oder die Schaffung einer „entrückten Welt” für gegenwärtiges Erleben? Diese Frage wird nicht klar beantwortet, weshalb die Maßnahmen zwischen Denkmalpflege und Szenografie schweben.

Heilarchitektur: Emanuel Felke und die Lehrmanwendungen

Eine regionale Besonderheit Bad Sobernheims ist die Tradition der Heilarchitektur, geprägt durch Pastor Emanuel Felke. Der 1915 angekommene Heiler entwickelte die „Lehrmanwendungen” – Methoden der ganzheitlichen Heilkunde, die enge Verflechtung zwischen Körper, Raum und Natur vorsahen. Das manifeste Zeugnis ist der 1992 angelegte Barfußpfad an der Nahe – der erste seiner Art in Deutschland, 3,5 Kilometer lang.

Architektonisch ist der Barfußpfad eine innovative Typus-Erfindung: ein lineares Bewegungsobjekt, das Natur und Heilwirkung durch räumliche Sequenzierung verbindet. Die Abfolge verschiedener Naturmaterialien (Kies, Gras, Schotter, Holz) erzeugt körperliche Stimulation – architektur als sensorische Erfahrung. Mit modernem Verständnis: Ein therapeutischer Raum, der Fußboden als programmatischer Erlebnisraum. Die Hängebrücke und Seilfähre des Pfads stellen zusätzliche räumliche Erlebnisse bereit. Damit wurde in Bad Sobernheim früher ein konzept entwickelt, das heute unter „Healing Environments” und Biophilic Design Karriere macht.

Barock und Schlichtheit: Die religiöse Architektur der Stadt

In Staudernheim, dem benachbarten Ort, steht ein „kaum verändertes Barockensemble” aus Johanneskirche und Pfarrhaus. Dies ist ein Beispiel für die regionale Kirchenarchitektur des 18. Jahrhunderts. Die Barockkirche in dieser Region folgte – anders als die südlichen Barockzonen – einer Ästhetik der Schlichtheit: klare Fassaden, einfache geometrische Proportionen, Verzicht auf Ornamentik. Das ist konfessionell bedingt (protestantische Barockarchitektur) und zeigt die regionale Eigenständigkeit gegenüber den südlichen Barock-Zentren.

Regionale Baukultur zwischen Konservierung und Krise

Bad Sobernheim demonstriert strukturelle Herausforderungen der Denkmalpflege in peripheren Regionen. Die Finanzierung der Freilichtmuseum und der Klosterruinen läuft nicht durch staatliche Politik, sondern durch Stiftungsarbeit und Engagement von Ehrenamtlichen. Das ist honorierend, aber fragil. Solche Strukturen sind anfällig für personelle Diskontinuität und finanzielle Volatilität.

Zugleich zeigt die Region ein innovatives Modell: Lokale Winzer betreiben einen Weinberg mit Reben aus allen Anbaugebieten des Landes. Das ist Baukultur im erweiterten Sinn – es nutzt die architektonische Infrastruktur (das Museum, die Nahe-Landschaft) für gegenwärtige wirtschaftliche und kulturelle Zwecke. Dadurch wird die Region nicht zum musealen Schrumpfraum, sondern bleibt produktiv.

Fazit: Architektur als regionales Gedächtnis

Bad Sobernheim zeigt, dass regionale Architekturgeschichte nicht antiquarisch sein muss. Das Freilichtmuseum bewahrt handwerkliche Techniken und Proportionen, die zeitgenössischem Bauen als Lernbeispiel dienen könnten. Der Disibodenberg verhandelt die Frage, wie Ruinen bewohnt werden können. Der Barfußpfad ist ein Konzept für therapeutische Architektur, das aktuell ist. Und die schlichte Barockkirche in Staudernheim zeigt, dass regionale Eigenständigkeit ein architektonisches Merkmal ist, das zu würdigen sich lohnt. Was fehlt, ist eine stärkere Vernetzung dieser architektonischen Stränge zu einer regional schlüssigen Erzählung – nicht als nostalgia, sondern als Gegenwarts-Ressource.