Baukunst - Wie Serbien die Architektur zu Grabe trägt
Serbien © La Biennale di Venezia

Wie Serbien die Architektur zu Grabe trägt

17.06.2025
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Stuart Rupert

Der Mut zur Selbstverleugnung

Nach vier Jahrzehnten in der Architekturpraxis habe ich vieles gesehen. Spektakuläre Bauten, die das Stadtbild prägten, bescheidene Interventionen, die Leben veränderten, und pompöse Gesten, die nur dem Ego der Architektinnen und Architekten dienten. Doch was derzeit im serbischen Pavillon der Architekturbiennale geschieht, ist beispiellos: Eine Disziplin schafft sich selbst ab – und das ist möglicherweise das Beste, was ihr passieren konnte.

„Unraveling: New Spaces“ trägt seinen Namen zu Recht. 140 maschinell und händisch gestrickte Stoffteile hängen von der Decke, 400 Quadratmeter textile Poesie, die sich dank solarbetriebener Spindeln Millimeter für Millimeter auflöst. Bis zum Ende der Biennale wird nichts mehr von dieser Installation übrig sein. Es ist eine radikale Absage an die Permanenz – jenes Grundversprechen, auf dem die Architektur seit Jahrtausenden fußt.

Die Ironie des Vergänglichen

Die Paradoxie ist offensichtlich: Ausgerechnet in einem Pavillon, der noch immer die Inschrift „Jugoslawien“ trägt – Zeugnis einer verschwundenen Nation –, wird das Konzept der Dauerhaftigkeit demontiert. Die jugoslawische Architektur war geprägt von monumentaler Geste, von Beton-Brutalismus, der Ewigkeit suggerieren sollte. Heute steht der Pavillon leer von seinen ursprünglichen Bedeutungen, während sich über ihm textile Vergänglichkeit entfaltet.

Diese Geste ist mehr als kunstvolles Handwerk. Sie ist eine schonungslose Kritik an einer Profession, die sich hartnäckig weigert, ihre eigene Endlichkeit zu akzeptieren. Während Klimakrise und Ressourcenknappheit längst eine Abkehr vom permanenten Bauen fordern, klammern sich Planerinnen und Planer an überholte Paradigmen.

Carlo Rattis Mega-Thema und seine Grenzen

Kurator Carlo Ratti hat der diesjährigen Biennale das Motto „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ verpasst – ein Titel, der alles und damit nichts umfasst. Dieser begriffliche Rundumschlag illustriert das Dilemma zeitgenössischer Architekturausstellungen: Die Angst vor klaren Positionen wird durch thematische Beliebigkeit kompensiert.

Der serbische Beitrag durchbricht diese Unverbindlichkeit mit chirurgischer Präzision. Statt sich in Rattis Allgemeinplätzen zu verlieren, formuliert er eine konkrete These: Architektur muss lernen zu verschwinden. Das ist unbequem, weil es die Daseinsberechtigung einer ganzen Zunft hinterfragt.

Handwerk als Gegenmodell

Die Kuratorinnen Marija Mojasevic und Luka Cakic haben bewusst auf textile Techniken gesetzt, die teilweise mit „mütterlicher Hilfe“ entstanden sind. Diese Formulierung mag paternalistisch klingen, trifft aber den Kern einer vergessenen Baukultur: Architektur war einst Gemeinschaftswerk, entstanden aus kollektivem Wissen und lokalen Fertigkeiten.

Heute dominieren Planungsbüros mit hunderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die standardisierte Lösungen für globale Märkte entwickeln. Individualität wird durch Effizienz ersetzt, Handwerk durch Digitalisierung. Der serbische Pavillon erinnert daran, was verloren gegangen ist – ohne jedoch romantische Nostalgie zu betreiben.

Die Ökonomie des Verschwindens

Aus wirtschaftlicher Sicht ist eine sich auflösende Architektur ein Albtraum. Keine Bauherrin würde Millionen für ein Gebäude investieren, das nach sechs Monaten verschwunden ist. Doch genau diese Unmöglichkeit macht den serbischen Beitrag so wertvoll: Er zeigt die Grenzen unseres Systems auf.

Die Bauwirtschaft lebt von der Illusion der Permanenz. Investoren kalkulieren mit Nutzungsdauern von 50, 80, 100 Jahren. Dabei wissen alle Beteiligten, dass viele Gebäude schon nach wenigen Jahrzehnten abgerissen werden – aus funktionalen, ästhetischen oder wirtschaftlichen Gründen. Wäre es nicht ehrlicher, Vergänglichkeit von vornherein mitzudenken?

Zwischen Kunst und Architektur

Kritiker werden einwenden, dass es sich bei „Unraveling: New Spaces“ um eine Kunstinstallation handelt, nicht um Architektur. Doch diese Unterscheidung greift zu kurz. Die besten architektonischen Ideen entstehen oft jenseits der konventionellen Baupraxis – in temporären Interventionen, experimentellen Strukturen, utopischen Entwürfen.

Der serbische Pavillon ist Architektur in ihrer reinsten Form: Er schafft Raum, beeinflusst Wahrnehmung und provoziert Diskussionen. Dass er dabei die eigenen Grundlagen hinterfragt, macht ihn nicht weniger architektonisch – im Gegenteil.

Zukunftsperspektiven einer sterbenden Disziplin

Die Architektur befindet sich in einer existenziellen Krise. Klimawandel, Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel stellen ihre Grundprinzipien infrage. Neue Planungsmethoden entstehen, die auf Algorithmen statt auf menschlicher Intuition basieren. Modulare Bausysteme ermöglichen Strukturen, die sich permanent wandeln können.

Der serbische Pavillon antizipiert diese Entwicklung. Er zeigt eine Architektur, die ihre eigene Vergänglichkeit akzeptiert und daraus neue Qualitäten entwickelt. Das ist schmerzhaft für eine Profession, die sich über Jahrhunderte als Hüterin der Ewigkeit verstanden hat.

Die Schönheit des Loslassens

Nach 40 Jahren im Beruf frage ich mich: Was wäre, wenn wir das Ideal der permanenten Architektur aufgeben würden? Wenn wir Gebäude entwerfen, die bewusst vergänglich sind, die sich wandeln, anpassen, verschwinden können? Der serbische Pavillon gibt eine mögliche Antwort: Es entstünde eine Architektur der Schönheit, der Poesie, der Nachdenklichkeit.

„Unraveling: New Spaces“ ist mehr als eine gelungene Biennale-Installation. Es ist ein Manifest für eine Architektur, die den Mut hat, sich selbst zu hinterfragen. In einer Zeit, in der die Baubranche noch immer von Wachstumsphantasien träumt, zeigt der serbische Beitrag einen anderen Weg: Die Eleganz des Verschwindens als neue Form des Bauens.

© La Biennale di Venezia,