Baukunst - Abriss als Klimaschutz? Die absurde Logik beim größten Bildungsneubau Österreichs
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Abriss als Klimaschutz? Die absurde Logik beim größten Bildungsneubau Österreichs

27.11.2025
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Ignatz Wrobel

Betonriese am Scheideweg: Wiens Kampf um die Alte WU

Auf bunten Post-its, die an einer Betonsäule kleben, stehen Botschaften wie „Weiter so stark sein” und „Stay positive”. Sie richten sich nicht an einen Menschen, sondern an ein Gebäude. Die Alte Wirtschaftsuniversität am Wiener Althangrund wird behandelt wie eine Patientin in der Intensivstation, und die Diagnose lautet: Abriss. Doch eine wachsende Allianz aus Architektinnen und Architekten, Kulturschaffenden und zivilgesellschaftlichen Gruppen will dieses Urteil nicht akzeptieren.

Das Kollektiv Raumstation, das regelmäßig Führungen über das Areal organisiert, hat diese Post-it-Aktion ins Leben gerufen. Ariadne Hinzen vom Kollektiv erklärt, es gehe darum, dem Gebäude Wertschätzung zu erweisen. Was zunächst wie sentimentale Nostalgie wirken mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ernstzunehmende Debatte über Ressourcenschonung, Baukultur und die Frage, wie wir mit dem gebauten Erbe der Nachkriegsmoderne umgehen wollen.

Ein Glaspalast auf Schienen

Die Geschichte der Alten WU ist eng mit den Namen Kurt Hlaweniczka und Karl Schwanzer verbunden, zwei Architekten, die das Erscheinungsbild des modernen Wien mitgeprägt haben. Schwanzer, bekannt für das BMW-Hochhaus in München und das Museum des 20. Jahrhunderts im Schweizergarten, verstarb bereits 1975, erlebte die Fertigstellung also nicht mehr. Hlaweniczka, der als Pionier der interdisziplinären Gesamtplanung gilt, führte das Projekt zu Ende.

Das Besondere an diesem Bau: Er schwebt gewissermaßen über den Gleisen der Franz-Josefs-Bahn. Die Überplattung des Bahnhofs war eine bautechnische Pionierleistung, die bis nach Amerika für Aufsehen sorgte. Das statische Meisterwerk ruht auf massiven Bohrpfählen und ermöglicht, dass unter der Platte weiterhin Züge verkehren. Aus der Vogelperspektive betrachtet erinnert der Komplex an einen Wal, der aus der umgebenden Gründerzeitstruktur auftaucht. Die sieben Geschosse sind von außen kaum erkennbar, die markante Glasfassade prägt dennoch das Stadtbild des Alsergrunds.

1982, nach einer auffallend langen Bauzeit, wurde die WU mit Pomp eröffnet. Helmut Leherb, Superstar des Phantastischen Realismus, hatte eigens für das Foyer riesige Fayencen gestaltet. Die Sektkorken knallten, die Prominenz war vollzählig erschienen. Und doch war das Gebäude von Beginn an zu klein: 9.900 Studierende drängten sich in Räume, die für 9.000 konzipiert waren.

Dreißig Jahre und dann: Umzug

2013 bezog die Wirtschaftsuniversität ihren neuen Campus im Prater, eine Ansammlung spektakulärer Solitärbauten von Zaha Hadid, Peter Cook und anderen Stars der internationalen Architekturszene. Das alte Gebäude am Althangrund wurde zum Ausweichquartier für andere Universitäten, deren Häuser saniert wurden. Die Akademie der bildenden Künste fand hier Unterschlupf, während am Schillerplatz gebaut wurde. Seit 2022 hat sich eine lebendige Zwischennutzungslandschaft entwickelt: Kunstateliers, Filmproduktionen, ein Papageien-Schutzzentrum im alten Glashaus, die künstlerische Volkshochschule.

Doch diese gewachsenen Strukturen sollen bald Geschichte sein. Im März 2024 präsentierten Stadt Wien, Bundesimmobiliengesellschaft, ÖBB, Universität Wien und BOKU University die Pläne für einen „neuen, topmodernen Bildungscampus”. Ab 2032 sollen Institute der Universität Wien, der BOKU, eine AHS und eine HTL hier Platz finden. 150.000 Quadratmeter Nutzfläche auf 60.000 Quadratmetern Grundfläche, der größte Bildungsstandort Österreichs. Die Kosten: geschätzte eine Milliarde Euro.

Die 40-Prozent-Frage

Im August 2025 startete die Bundesimmobiliengesellschaft den EU-weiten Architekturwettbewerb. Eine Vorgabe sticht heraus: Mindestens 40 Prozent der Bestandsstruktur müssen erhalten werden, was etwa 50.000 Kubikmeter Beton entspricht. Klingt das nach einem Zugeständnis an die Kritikerinnen und Kritiker oder nach verstecktem Minimalismus?

Die „Allianz Alte WU”, ein offenes Netzwerk aus Architekturinstitutionen, der IG Architektur, Architects for Future Austria und engagierten Bürgerinnen und Bürgern, sieht darin ein Feigenblatt. Ihr gemeinsames Ziel: den großflächigen Abbruch verhindern und einen Prozess zur zukunftsfähigen Transformation des Gebäudes vorantreiben. Die Allianz verweist auf die enormen Mengen grauer Energie, die im Bestand gebunden sind, also die Energie, die für Herstellung, Transport und Errichtung der Baumaterialien aufgewendet wurde.

Das Umweltbundesamt Österreich ermittelte für 2022 ein Abfallaufkommen von 73,9 Millionen Tonnen. 59 Prozent entfallen auf Aushubmaterialien, 16 Prozent auf Bauabfälle. Der Abriss der Alten WU wäre einer der größten Österreichs in den kommenden Jahren. Wo bleibt da der behutsame Umgang mit dem Bestand, den alle Beteiligten rhetorisch beschwören?

Zu jung für den Denkmalschutz?

Ein zentrales Problem: Mit 45 Jahren ist die Alte WU noch zu jung, um als Denkmal wahrgenommen zu werden. Die Nähe zur Ästhetik des Brutalismus erschwert die Akzeptanz in der breiten Bevölkerung. Für manche ist der Komplex ein sperriges Relikt, für andere ein wertvolles Beispiel seiner Epoche. Die gerasterte Stützenstruktur, die offenen Leitungen, die großzügigen Gemeinschaftsräume verkörpern den Zeitgeist der frühen 1980er Jahre.

Ausstellungen wie „Sorge um den Bestand”, die just in der Alten WU gezeigt wurde, haben vorgeführt, wie produktiv der Umgang mit Bestandsgebäuden sein kann. Zehn europäische Beispiele demonstrierten, dass Sanierung und Umbau oft sinnvollere Alternativen zum Abriss darstellen. Die Ironie, dass diese Ausstellung ausgerechnet an einem Ort stattfand, der selbst dem Abbruch preisgegeben werden soll, ist niemandem entgangen.

Zwischen Erdbeben und Laborpräzision

Die Befürworterinnen und Befürworter des Neubaus führen gewichtige Argumente ins Feld: Die Erdbebensicherheit des Bestandsgebäudes entspricht nicht den heutigen Normen, eine Ertüchtigung in Kombination mit dem darunterliegenden Bahnhof sei nur schwer möglich. Niedrige Raumhöhen, mangelnde natürliche Belichtung und störende Vibrationen durch den Zugverkehr verhinderten eine zeitgemäße Nutzung als Forschungsstandort. Die BOKU benötige hochsensible Laborausrüstung, die erschütterungsfreie Umgebungen voraussetzt.

Peter Bauer, Vizepräsident der Ingenieurs- und Architektenkammer, widersprach bei einem Symposium an der TU Wien: Ein partieller Abriss, der einen Neubau für die Labore ermöglicht, wäre denkbar. Dieser könnte auf einem eigenen Fundament stehen. Das wäre womöglich effizienter, als das gesamte Biologiezentrum abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen.

Ein Paradigmenwechsel, der noch nicht stattfindet

Die Debatte um die Alte WU ist mehr als ein lokaler Konflikt. Sie steht exemplarisch für einen Kulturkampf im Bauwesen. Die Forderung nach Dekarbonisierung des Bauens, nach Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung kollidiert mit eingeübten Planungspraktiken, Investitionslogiken und dem Streben nach architektonischer Selbstverwirklichung.

Die BIG betont, dass Abbruchmaterial vor Ort recycelt und bei Neubauten wiederverwendbare Materialien eingesetzt werden sollen. Flächen sollen entsiegelt, Grünräume geschaffen werden. Doch Kritikerinnen und Kritiker werfen den Verantwortlichen Greenwashing vor. Der geplante Abriss widerspreche den Prinzipien einer wirklich nachhaltigen Stadtplanung.

Johannes Zeininger von der Allianz Alte WU forderte bei der Wettbewerbsauslobung eine andere Bewertungsmatrix: Projekte, die mehr Substanz erhalten, sollten bevorzugt werden. Das Kriterium der Wirtschaftlichkeit, das verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, müsse breiter interpretiert werden. Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen bedeute auch Sparsamkeit im Umgang mit bereits verbauter grauer Energie.

Ausblick: Wettbewerb als Chance?

Bis zum 18. Dezember 2025 können Architekturbüros aus der Europäischen Union ihre Entwürfe einreichen. Anfang 2026 wählt das Preisgericht die zehn besten Beiträge für die zweite Stufe aus. Ende 2026 soll das Siegerprojekt feststehen. Der Rückbau könnte 2027 beginnen, die ersten Gebäude ab 2032 eröffnet werden.

Bernhard Sommer, Präsident der Ziviltechnikerinnen- und Ziviltechnikerkammer Wien, sieht den Wettbewerb als Chance: Der bestehende Gebäudekomplex könne aufgrund der notwendigen Dekarbonisierung des Bauens zu seiner größten Ressource werden. Die benannten Preisrichterinnen und Preisrichter versprechen eine reflektierte Auseinandersetzung mit Kreislaufwirtschaft, Klimaanpassung und Bildungsbau.

Ob das ausreicht, um die 40-Prozent-Vorgabe nach oben zu korrigieren, bleibt abzuwarten. Die Wettbewerbsjury wird entschiedener sein müssen als die Auslobung, wenn sie dem proklamierten Anspruch eines Leuchtturmprojekts für klimafreundliches Bauen gerecht werden will. Denn eines ist klar: Ein echter Paradigmenwechsel findet nicht statt, wenn am Ende doch 60 Prozent des Bestands auf der Mülldeponie landen.

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