Baukunst - La Biennale 2025 - "Anwendbare Innovationen"
Venedig © Baukunst.art

La Biennale 2025 – „Anwendbare Innovation“

24.05.2025
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Ignatz Wrobel

Die Stunde der Wahrheit

Nach sechs Monaten Biennale, nach hunderten Presseberichten und tausenden Instagram-Posts stellt sich die entscheidende Frage: Was nehmen Architektinnen und Architekten mit in ihre Büros? Zwischen den visionären Projekten von Carlo Rattis „Intelligens“ und der Realität deutscher Bauordnungen klafft ein Abgrund. Doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich durchaus praktikable Ansätze, die den Arbeitsalltag verändern könnten.

„Die Biennale ist wie ein Spiegel“, sagt eine Münchner Architektin nach ihrem Venedig-Besuch. „Man sieht, was möglich wäre – und merkt gleichzeitig, wie weit wir davon entfernt sind.“ Diese Spannung zwischen Vision und Realität prägt die Diskussion um den Praxistransfer. Wo liegen die Chancen? Wo die Grenzen? Und was lässt sich konkret umsetzen?

Interdisziplinarität: Mehr als ein Buzzword

Der radikalste Ansatz der Biennale 2025 – die Zusammenarbeit von über 750 Mitwirkenden aus allen Disziplinen – findet bereits Eingang in progressive Büros. „Wir haben nach Venedig unser Team umstrukturiert“, berichtet ein Hamburger Büroinhaber. „Statt nur Architektinnen beschäftigen wir jetzt auch eine Umweltwissenschaftlerin und einen Soziologen.“

Das Modell funktioniert: Während Architekten oft in formalen Kategorien denken, bringen andere Disziplinen neue Perspektiven ein. Klimaingenieurinnen optimieren bereits in der Entwurfsphase die Gebäudeperformance, Sozialwissenschaftler analysieren Nutzerbedürfnisse, Materialforscher entwickeln nachhaltige Alternativen.

Ein Berliner Büro  ging noch weiter: „Wir haben ein rotierendes System eingeführt“, erklärt eine Partnerin . „Jeden Monat arbeitet eine externe Expertin bei uns mit – mal eine Meeresbiologin, mal ein Programmierer. Das kostet, aber die Ergebnisse sind revolutionär.“

Die Herausforderung liegt in der Organisation. Interdisziplinäre Teams brauchen neue Arbeitsformen, andere Honorarstrukturen, veränderte Projektzeitpläne. „Man muss früher anfangen, intensiver kommunizieren und flexibler planen“, fasst Chen die Erfahrungen zusammen.

Open Source statt Betriebsgeheimnis

Einer der radikalsten Ansätze der Biennale – die Offenlegung von Forschungsergebnissen – beginnt sich auch in der Praxis durchzusetzen. Das griechische Kollektiv Vessel macht seine Seegras-Dämmplatten als Open-Source-Lösung verfügbar. Material Cultures aus London dokumentiert bio-basierte Experimente detailliert online.

„Warum soll jedes Büro das Rad neu erfinden?“, fragt Thomas Weber. „Wir teilen unsere Detaillösungen für Holzbau-Verbindungen auf einer offenen Plattform. Andere Büros nutzen sie, verbessern sie, geben ihre Verbesserungen zurück. Alle profitieren.“

Der Ansatz funktioniert besonders bei nachhaltigen Technologien. Passive Kühlsysteme, Regenwassernutzung, Begrünungsdetails – viele Lösungen lassen sich adaptieren und weiterentwickeln. Das spart Entwicklungszeit und reduziert Fehlerquellen.

Doch die Praxis zeigt auch Grenzen: „Open Source funktioniert bei technischen Details, aber nicht bei gestalterischen Konzepten“, warnt eine Frankfurter Architektin. „Der kreative Mehrwert muss geschützt bleiben, sonst stirbt die Innovation.“

Materialinnovation im Praxistest

Die spektakulärsten Materialprojekte der Biennale – von Boonserm Premthadas Elefantendung-Ziegeln bis zu den bio-basierten Experimenten von Material Cultures – scheinen zunächst praxisfern. Doch dahinter stecken übertragbare Prinzipien.

„Das Entscheidende ist die Denkweise“, erklärt Dr. Andreas Müller vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik. „Statt immer neue Hochleistungsmaterialien zu entwickeln, schauen wir wieder auf lokale Ressourcen. Lehm, Stroh, Hanf – alles da, alles verfügbar, alles nachhaltig.“ Tatsächlich erleben traditionelle Baustoffe eine Renaissance. „Besseres Raumklima, niedrigere Kosten, geringere CO2-Bilanz.“

Die Herausforderung liegt in den Genehmigungsverfahren. Deutsche Bauordnungen sind auf Standardmaterialien ausgelegt. Alternative Baustoffe erfordern Einzelnachweise, kosten Zeit und Geld. „Wir brauchen mutigere Bauämter“, fordert Schneider. „Und Architektinnen, die sich trauen.“

Digitale Tools für interdisziplinäre Zusammenarbeit

Die ETH Zürichs Robotik-Experimente mögen spektakulär wirken, aber ihre digitalen Grundlagen sind bereits verfügbar. „Parametrisches Design wird Standard“, prophezeit ein Berliner Planungsexperte. „Nicht für jeden Wohnungsbau, aber für komplexe Projekte unverzichtbar.“

Algorithmus-basierte Entwurfstools ermöglichen es, verschiedene Disziplinen bereits in der Planungsphase zu integrieren. Klimadaten fließen in die Formfindung ein, statische Berechnungen beeinflussen die Geometrie, Kostenschätzungen optimieren die Materialpläne. Das Ergebnis: bessere Gebäude bei kürzerer Planungszeit.

Ein Hamburger Büro nutzt KI-gestützte Tools für die Grundrissoptimierung. „Der Algorithmus entwickelt hunderte Varianten in Minuten“, erklärt Partner Michael Koch. „Wir wählen die besten aus und verfeinern sie. Das spart Wochen an Planungszeit.“

Doch auch hier zeigen sich Grenzen: „KI kann optimieren, aber nicht gestalten“, warnt Koch. „Der kreative Funke kommt immer noch vom Menschen. Technologie ist Werkzeug, nicht Ersatz.“

Partizipative Planungsmethoden

Die Bürgerbeteiligungsmodelle der Biennale – von Irlands Citizens‘ Assembly bis zu den Self-Organized Markets von Lagos – finden bereits Anwendung in deutschen Büros. „Wir planen nichts mehr ohne die künftigen Nutzer“, sagt Kölner Architekt Robert Fischer. „Das kostet Zeit, aber verhindert teure Änderungen.“

Besonders im sozialen Wohnungsbau und bei öffentlichen Gebäuden etablieren sich partizipative Methoden. Online-Plattformen ermöglichen es, große Nutzergruppen einzubeziehen. Virtual Reality macht Planungen erlebbar, bevor gebaut wird. Co-Design-Workshops entwickeln Lösungen gemeinsam mit den Betroffenen.

„Die Wiener zeigen, wie es geht“, lobt Fischer den österreichischen Biennale-Beitrag. „Hundert Jahre Erfahrung mit sozialem Wohnbau – davon können wir lernen.“ Sein Büro adaptiert Wiener Typologien für deutsche Verhältnisse: große Gemeinschaftsräume, flexible Grundrisse, soziale Durchmischung.

Zirkuläre Bauwirtschaft im Kleinformat

Das Circular Economy Manifesto der Biennale wirkt zunächst utopisch – zu radikal für eine auf Wachstum programmierte Bauwirtschaft. Doch in kleinem Maßstab funktioniert Kreislaufwirtschaft bereits heute.

„Wir bauen nur noch mit wiederverwendeten Materialien“, berichtet die Dresdner Architektin Anna Weber. „Ziegel aus Abrissgebäuden, Balken aus alten Fabriken, Fenster aus Büroumbauten. Das ist günstiger und nachhaltiger als Neukauf.“

Ihr Büro Circular Architecture hat sich auf „Urban Mining“ spezialisiert – das Ausgraben wertvoller Materialien aus der gebauten Umwelt. Eine eigene Datenbank erfasst verfügbare Baustoffe, ein Netzwerk von Partnerunternehmen übernimmt Demontage und Aufarbeitung.

„Der Markt ist da“, ist Weber überzeugt. „Bauherren wollen nachhaltig bauen, Baustoffe werden teurer, Entsorgung wird schwieriger. Wiederverwendung ist die logische Antwort.“

Neue Geschäftsmodelle für Architekturbüros

Die Biennale zeigt auch neue Wege der Projektfinanzierung. Das Biennale College mit seinen 20.000-Euro-Grants für junge Talente inspiriert innovative Büros zu ähnlichen Modellen. „Wir finanzieren Experimente durch Crowdfunding“, berichtet das Berliner Start-up Future Labs. „Kleine Beträge von vielen Menschen für große Ideen.“

Das funktioniert besonders bei sozialen und ökologischen Projekten. Ein Kindergarten in Kreuzberg, ein Gemeinschaftsgarten in Wedding, eine Flüchtlingsunterkunft in Spandau – alle über Crowdfunding-Plattformen finanziert. „Die Menschen wollen Teil der Lösung sein“, erklärt Future Labs-Gründerin Sophie Klein. „Sie investieren in Projekte, die ihre Nachbarschaft verbessern.“

Auch traditionelle Büros experimentieren mit neuen Modellen. Equity-Beteiligungen an Projekten, Lizenzgebühren für innovative Lösungen, Beratungshonorare für Nachhaltigkeitsexpertise – die Honorarordnung für Architekten gerät in Bewegung.

Die Grenzen der Übertragbarkeit

Doch nicht alles lässt sich übertragen. Die träumenden Roboter der ETH Zürich bleiben vorerst Forschungsobjekte, Elefantendung-Ziegel sind in Deutschland nicht genehmigungsfähig, und die informellen Märkte von Lagos funktionieren nicht in geordneten deutschen Städten.

„Viele Biennale-Projekte sind Kunst, nicht Architektur“, kritisiert ein Münchner Büroinhaber. „Sie regen zum Nachdenken an, aber lösen keine praktischen Probleme. Meine Bauherren wollen funktionierende Häuser, keine Installationen.“

Die Kritik trifft einen wunden Punkt. Die Biennale wird oft als abgehobene Veranstaltung wahrgenommen, die mit der Realität des Bauens wenig zu tun hat. Tatsächlich scheitern viele visionäre Ansätze an profanen Hürden: Bauordnungen, Finanzierung, Nutzerakzeptanz.

„Man muss unterscheiden zwischen Inspiration und Implementation“, rät die Beraterin Dr. Petra Hofmann, die Architekturbüros bei der Strategieentwicklung unterstützt. „Nicht alles muss eins zu eins übertragen werden. Manchmal reicht es, die Denkweise zu ändern.“

Kleine Schritte, große Wirkung

Die erfolgreichsten Praxistransfers sind oft die unspektakulärsten. Ein Detail aus einem Biennale-Pavillon, ein Planungsansatz, eine neue Software – kleine Bausteine, die zusammen große Veränderungen bewirken können.

„Wir haben nach Venedig unsere Bibliothek neu organisiert“, erzählt eine Stuttgarter Architektin. „Nicht mehr nach Gebäudetypen, sondern nach Themen: Klima, Material, Gesellschaft. Das verändert unsere Denkweise bei jedem Projekt.“

Andere Büros führten regelmäßige interdisziplinäre Meetings ein, experimentierten mit neuen Visualisierungstools oder entwickelten nachhaltige Standarddetails. Kleine Schritte, die zusammen eine andere Arbeitsweise ergeben.

Die Zukunft ist kollaborativ

Die wichtigste Lektion der Biennale 2025 für die Praxis: Die Zukunft der Architektur ist kollaborativ. Nicht der einsame Genius am Reißbrett, sondern das vernetzte Team aus verschiedenen Disziplinen wird die Herausforderungen von Klimawandel und Urbanisierung lösen.

„Wir müssen umdenken“, fasst die Hamburger Architektin Dr. Julia Richter zusammen. „Vom Generalisten zum Spezialisten, vom Einzelkämpfer zum Teamplayer, vom Formgeber zum Problemlöser. Die Biennale zeigt den Weg.“

Der Weg ist steinig, aber gangbar. Zwischen träumenden Robotern und Elefantendung-Ziegeln verstecken sich praktikable Lösungen für den Alltag deutscher Architekturbüros. Man muss sie nur finden – und den Mut haben, sie auszuprobieren.

Die 19. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ läuft noch bis zum 23. November 2025.

Öffnungszeiten:

  • Mai bis 28. September: 11:00 – 19:00 Uhr (Freitag/Samstag im Arsenale bis 20:00 Uhr)
  • 29. September bis 23. November: 10:00 – 18:00 Uhr
  • Geschlossen: Montags (außer 12. Mai, 2. Juni, 21. Juli, 1. September, 20. Oktober, 17. November)

Veranstaltungsorte: Giardini und Arsenale, Venedig

Eintrittspreise:

  • Einzelticket: 25€ (gültig für beide Venues)
  • Ermäßigt: 22€ (Studierende, Senioren 65+, Gruppen ab 10 Personen)
  • Familienticket: Kinder bis 6 Jahre frei

Weitere Informationen: www.labiennale.org/en/architecture/2025