Baukunst - Die Sehnsucht nach Heilung: Was die Therapeutisierung der Museen über unsere Gesellschaft verrät
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Die Sehnsucht nach Heilung: Was die Therapeutisierung der Museen über unsere Gesellschaft verrät

18.06.2025
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Stuart Rupert

Die Vermessung des Wohlbefindens

Können Ausstellungen Besucher gesund machen? Gedanken zum „heilenden Museum“ in Berlin

Das Berliner Bode-Museum hat sich einem bemerkenswerten Experiment verschrieben. Im Raum 124 laden seit einigen Monaten Meditationskissen und eine eigens aufgestellte Bank dazu ein, durch Achtsamkeitsübungen die Sorgen des Alltags hinter sich zu lassen. Das Projekt „Das heilende Museum“ vereint Achtsamkeit, medizinische Forschung und Kunstgeschichte und ist das Ergebnis einer Kooperation des Bode-Museums mit dem Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung von Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center.

Diese Initiative steht beispielhaft für einen internationalen Trend, der Museen als Orte der Heilung etablieren möchte. In Montreal bekommen Kanadier auf Rezept ihres Arztes freien Eintritt ins Musée des beaux-arts. Bis zu 50 Museumsbesuche pro Jahr kann ein Arzt jedem Patienten verschreiben. In Neuenburg lanciert die Stadt eine neue Gesundheitskampagne: Wer von der Ärztin oder dem Arzt eine Verschreibung bekommt, darf gratis in die vier Museen der Stadt.

Was zunächst als innovative Verbindung von Kultur und Gesundheitswesen erscheint, wirft bei näherer Betrachtung grundsätzliche Fragen auf. Ist dies die längst überfällige Anerkennung kultureller Bildung als gesellschaftliche Notwendigkeit – oder der Ausdruck einer problematischen Ökonomisierung, die Museen dazu drängt, ihre Existenzberechtigung mit gesundheitlichen Nutzenversprechen zu legitimieren?

Die Wissenschaft der kulturellen Medizin

Die Forschungslage scheint eindeutig: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kam in einem im November 2019 vorgestellten Bericht zu dem Schluss, dass künstlerisch-kreative Tätigkeiten nachweislich eine positive Wirkung auf die Gesundheit haben. Für diese Studie wurden über 900 internationale Publikationen ausgewertet. Ein italienisches Team um den Psychologen Stefano Mastandrea berichtet: „Museumsbesuche scheinen positiven Einfluss auf den Blutdruck zu haben und ihn signifikant zu senken“.

Ein systematisches Review von 86 sozialen Verschreibungsprogrammen ergab, dass vier kreative soziale Verschreibungsinitiativen „einen 37%igen Rückgang der Hausarztkonsultationen und eine 27%ige Reduzierung der Krankenhauseinweisungen“ bewirkten. Für jeden in „Arts-on-Prescription“ investierten Euro wurde eine soziale Rendite von 4 bis 11 Euro errechnet.

Diese Zahlen beeindrucken – doch sie verschleiern die Komplexität der Wirkungsmechanismen. Denn was genau heilt in der Kunstbetrachtung? Ist es die ästhetische Erfahrung selbst, die sozialen Kontakte im Museumsraum, die Ablenkung vom Alltag oder schlicht die Tatsache, dass Menschen das Haus verlassen und sich körperlich betätigen?

Architektonische Verantwortung versus therapeutische Anmaßung

Als erfahrener Architekt mit vier Jahrzehnten Berufspraxis betrachte ich diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits haben wir Planer und Bauherren stets gewusst, dass räumliche Gestaltung unmittelbar auf das menschliche Wohlbefinden einwirkt. Die Heilwirkung von Licht, Proportion und Material ist keine neue Erkenntnis, sondern jahrhundertealtes Planungswissen. Krankenhausarchitektur, die Genesung fördert, Schulbauten, die Lernen ermöglichen, oder Museumsräume, die zur Kontemplation einladen – all dies sind ureigene Aufgaben der Baukunst.

Problematisch wird es jedoch, wenn diese funktionale Verantwortung zur therapeutischen Verheißung überhöht wird. Das heilende Museum verspricht, bei Erkrankungen des zentralen Nervensystems hilfreich zu sein, etwa bei Multipler Sklerose. Hier verlassen Museen den Bereich kultureller Bildung und begeben sich auf medizinisches Terrain, für das sie weder ausgebildet noch rechtlich legitimiert sind.

Die Kommerzialisierung des Kulturauftrags

Diese Therapeutisierung der Museen ist Teil eines größeren Phänomens, das die Kulturinstitutionen seit Jahren prägt. Museen ziehen sich das Superman-Cape über und retten im Alleingang, was die Gesellschaft als Ganzes nicht mehr hin bekommt. Sie kümmern sich um Bildung und Ausbildung, wollen Teilhabe ermöglichen und benachteiligte Gruppen stärken, sie engagieren sich in Stadtteilarbeit, Urbanistik und möglichst auch noch als Gärtnereibetrieb und Refugium für Bienenvölker.

Diese Entwicklung ist nicht zufällig. In Zeiten knapper öffentlicher Mittel müssen Kulturinstitutionen ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis stellen. Durch die Partnerschaft mit Gesundheitsinitiativen können kulturelle Einrichtungen klare Belege für die Auswirkungen und die Bedeutung der Künste für die Gesellschaft insgesamt liefern. Der Museumsbesuch auf Rezept wird zum Überlebensinstrument in der Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit und Finanzierung.

Doch diese instrumentelle Vereinnahmung birgt Gefahren. Es passt auf fast unheimliche Weise zu dem Wellness-Diskurs einer Gesellschaft, die das Soziale immer weiter abbaut und die Schäden per Gefühls-Management-Workshop zukleistern will. Anstatt strukturelle gesellschaftliche Probleme anzugehen, werden individuelle Lösungsstrategien in den Museumsräumen gesucht.

Grenzen der kulturellen Heilungsversprechen

Die Gefahr liegt nicht nur in der Überforderung der Institutionen, sondern auch in der Enttäuschung der Erwartungen. Die einfache Formel „Picasso statt Pillen“ geht nicht ganz auf. Was ein Bild mit uns macht, ist letztendlich auch abhängig von uns und unserer Geschichte. Ein Ticket für Kunstbegegnungen als Therapeutikum zu verschreiben, wäre eine eher heikle Sache, da jede künstlerische Kreation eine von Betrachter zu Betrachter unterschiedliche Wirkung auf Auge, Körper und Psyche ausübt.

Die Kunst kann durchaus verstören, provozieren oder verunsichern – und genau das ist oft ihre wichtigste gesellschaftliche Funktion. Die Reduktion auf therapeutische Wirksamkeit beschneidet ihr kritisches Potenzial und macht sie zu einem harmlosen Wellness-Produkt.

Zwischen echter Innovation und modischem Trend

Das Berliner Experiment ist dennoch bemerkenswert, weil es interdisziplinäre Forschung ermöglicht und neue Erkenntnisse über die Wirkung von Museumsräumen generiert. Eine kleine Studie zu dem Ansatz, die vom Freundeskreis der Charité finanziert wird, ist bereits angelaufen. „Derzeit haben wir die Möglichkeit, etwa 50 bis 100 Proband*innen den Besuch des heilenden Museums zu ermöglichen, sie vorher und nachher zu ihren krankheitsbedingten Belastungen zu befragen und die Ergebnisse wissenschaftlich auszuwerten“.

Solche Forschungsansätze können durchaus wertvolle Erkenntnisse für die zukünftige Museumsgestaltung liefern. Die Frage ist nur, ob diese wissenschaftliche Neugier die Überhöhung zu einem „heilenden“ Versprechen rechtfertigt.

Architektur als stille Therapeutin

Als Architekt plädiere ich für einen differenzierteren Umgang mit den gesundheitsfördernden Potenzialen der gebauten Umwelt. Museen können und sollen Orte der Ruhe, der Inspiration und der sozialen Begegnung sein. Ihre Räume können durchaus therapeutisch wirken – aber sie sollten dies ohne überzogene Heilungsversprechen tun.

Die beste Museumsarchitektur ist jene, die ihre Wirkung entfaltet, ohne sie explizit zu thematisieren. Sie schafft Atmosphären, die zur Kontemplation einladen, Proportionen, die beruhigen, und Raumfolgen, die Orientierung geben. Diese subtile Wirksamkeit ist wertvoller als jede medizinische Verordnung.

Ein Plädoyer für kulturelle Eigenständigkeit

Die Diskussion um das „heilende Museum“ offenbart ein grundsätzliches Dilemma der Kulturpolitik: Sollen Museen als Dienstleister für gesellschaftliche Problemlösungen fungieren oder als eigenständige Institutionen der Bildung und Erkenntnis?

Die Museen allein können die Welt nicht retten. Auch nicht mit viel Gefühl. Ihre Stärke liegt in der Bewahrung, Erforschung und Vermittlung kultureller Zeugnisse – nicht in der Therapie individueller Befindlichkeiten.

Das bedeutet nicht, dass Museen ihre gesellschaftliche Verantwortung ignorieren sollten. Aber sie sollten diese aus ihrer spezifischen kulturellen Kompetenz heraus wahrnehmen, nicht als Ersatz für fehlende Sozial- und Gesundheitspolitik.

Die Zukunft der Museumsarchitektur

Für uns Architekten und Planer bedeutet dies, bei der Gestaltung von Museumsräumen sowohl die wissenschaftlichen Erkenntnisse über räumliche Wirkungen zu berücksichtigen als auch die institutionelle Eigenständigkeit der Kultureinrichtungen zu stärken.

Ein gelungenes Museum ist ein Ort, der durch seine räumliche Qualität zur kulturellen Bildung beiträgt und dabei ganz nebenbei auch das Wohlbefinden der Besucherinnen und Besucher fördert. Es braucht keine explizite Therapeutisierung, um seine positive Wirkung zu entfalten.

Die Herausforderung liegt darin, diese integrative Qualität zu erreichen, ohne die kritische und bildende Funktion der Kunst zu instrumentalisieren. Museen sind keine Krankenhäuser – und das ist gut so.