In einer bemerkenswerten Wendung der Geschichte plant das Stuttgarter Architekturbüro LRO den Bau eines Interimsgebäudes für die Nürnberger Oper auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände der NSDAP. Dieses Projekt, mit geschätzten Kosten von 85,5 Millionen Euro, stellt nicht nur eine architektonische Herausforderung dar, sondern auch eine symbolträchtige Transformation eines historisch belasteten Ortes.
Das preisgekrönte Büro LRO, bekannt für den erfolgreichen Neubau des Münchner Volkstheaters, hat sich mit seinem innovativen Entwurf gegen die Konkurrenz durchgesetzt. Ihr Konzept für das temporäre Opernhaus, das Platz für 800 Zuschauerinnen und Zuschauer bieten soll, sieht eine vollständig begrünte Fassade vor. Diese grüne Hülle steht in bewusstem Kontrast zur monumentalen NS-Architektur des Umfelds und symbolisiert einen Neuanfang.
„Die Erscheinung des geplanten Neubaus nimmt bewusst die Gegenposition des massiven Hufeisens ein“, erläutert eine Sprecherin von LRO. „Grün entsteht an einem Ort, an dem auf natürlichem Weg nichts wachsen kann.“ Die Begrünung ist dabei mehr als nur Dekoration: Nistkästen und Insektenhabitate sollen die Biodiversität fördern und neues Leben in den kargen Innenhof bringen.
Der Nürnberger Stadtrat hat dem Entwurf mit großer Mehrheit zugestimmt. Die Entscheidung basierte auf einem europaweiten Vergabeverfahren, das Planungs- und Bauleistungen kombiniert. Dieses „Alles aus einer Hand“-Prinzip soll eine effiziente und termingerechte Realisierung gewährleisten – ein Ansatz, der sich beim Münchner Volkstheater bereits bewährt hat.
Die Wahl des Standorts auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände ist nicht ohne Kontroversen. Kritikerinnen und Kritiker sehen darin eine mögliche Verharmlosung der NS-Vergangenheit. Befürworter argumentieren hingegen, dass die kulturelle Nutzung eine Form der Überwindung und Neudeutung des historischen Erbes darstelle.
Nürnbergs Baureferent Daniel Ulrich betont: „Der Neubau versteht sich als bewusste Gegenposition zum massiven, hufeisenförmigen Torso der NS-Architektur.“ Die Kubatur des Baus soll sich hinter der Begrünung verbergen und damit auf eine eigene Architektursprache verzichten – eine subtile, aber wirkungsvolle Stellungnahme zur Geschichte des Ortes.
Das Projekt ist Teil einer größeren Strategie, das ehemalige Reichsparteitagsgelände als Lern- und Begegnungsort zu etablieren. Die Interimsspielstätte soll mindestens 25 Jahre genutzt werden, zunächst vom Staatstheater, später möglicherweise von der freien Szene. Nach aktueller Planung wird das Opernhaus 2027 fertiggestellt und 2028 eröffnet.
Die Gesamtkosten des Projekts, einschließlich Theaterinfrastruktur und Schadstoffsanierungen, werden auf etwa 296 Millionen Euro geschätzt. Eine beträchtliche Investition, die jedoch im Kontext der dringend notwendigen Sanierung des bestehenden Opernhauses am Richard-Wagner-Platz zu sehen ist.
LRO Architekten haben mit diesem Entwurf eine heikle Balance zwischen Funktionalität, Ästhetik und historischer Sensibilität gefunden. Die grüne Fassade fungiert dabei als Metapher für Wachstum und Erneuerung, während sie gleichzeitig die schwere Last der Geschichte respektvoll verhüllt.
Architekt Franz Lehner, ehemaliger Vorsitzender der Bayerischen Architektenkammer, lobt den Ansatz: „Es ist eine intelligente Lösung, die nicht versucht, mit der Monumentalität des Ortes zu konkurrieren, sondern sie durch Leichtigkeit und Natürlichkeit kontrastiert.“
Die Realisierung des Projekts wird mit Spannung erwartet. Es verspricht, nicht nur eine funktionale Übergangslösung für die Nürnberger Oper zu schaffen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten. Die grüne Oper auf Hitlers einstigem Paradeplatz könnte so zu einem Symbol dafür werden, wie Architektur Geschichte nicht auslöschen, aber neu interpretieren und in die Gegenwart überführen kann.
Für die Stuttgarter Architektenszene bedeutet dieser Auftrag einen weiteren Prestigeerfolg. Er unterstreicht die Fähigkeit der Region, innovative und sensible Lösungen für komplexe architektonische Herausforderungen zu entwickeln. Das Projekt in Nürnberg könnte wegweisend sein für den zukünftigen Umgang mit historisch belasteten Orten und zeigt, dass Architektur mehr sein kann als bloße Funktionserfüllung – sie kann Geschichte umdeuten und neue Perspektiven eröffnen.