
Eine kritische Bilanz der Biennale 2025
Das große Durcheinander
Nach 40 Jahren im Architekturgeschäft habe ich nahezu alle Biennalen erlebt – aber keine hat mich so ratlos zurückgelassen wie Carlo Rattis „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ War das nun der Aufbruch in eine bessere Zukunft oder der finale Offenbarungseid einer Disziplin, die ihre Probleme nicht mehr in den Griff bekommt?
„A claustrophobic mess of bio and techno theatrics“, urteilte ArtReview vernichtend. Der Vorwurf ist nicht von der Hand zu weisen: 760 Mitwirkende, über 300 Projekte, zusammengepfercht in den Corderie des Arsenale – das ist keine Ausstellung, das ist ein Informationstsunami. Man verlässt die Hallen mit dem Gefühl, alles und nichts gesehen zu haben.
Doch vielleicht ist genau das der Punkt. Rattis Biennale spiegelt wider, was unsere Disziplin geworden ist: überkomplex, überfrachtet, überfordert. Die Zeit der großen Gesten und einfachen Antworten ist vorbei. Willkommen in der Welt der kollektiven Intelligenz – auch wenn sie erstmal wie kollektive Verwirrung aussieht.
Der Mythos vom Tech-Messias
Der schärfste Kritikpunkt trifft Rattis Technologie-Euphorie. „Expensive machines to solve problems that didn’t need fixing in the first place“, höhnt ArtReview. Ein träumender Roboter, der nichts produziert außer philosophischen Fragen – ist das wirklich die Antwort auf brennende Städte und steigende Meeresspiegel?
Als jemand, der noch mit Rapidograph und Lineal gelernt hat, bin ich skeptisch gegenüber dem digitalen Heilsversprechen. KI-optimierte Holzverbindungen klingen beeindruckend, aber lösen sie das Problem unbezahlbarer Mieten? Algorithmus-basierte Entwürfe sind effizient, aber schaffen sie lebenswerte Räume? Parametrisches Design ist präzise, aber berührt es menschliche Herzen?
Die Gefahr liegt im Techno-Solutionismus: der Glaube, dass jedes Problem eine technische Lösung hat. Doch Architektur ist mehr als optimierte Performance-Parameter. Sie ist Kultur, Geschichte, Emotion – Dinge, die sich nicht algorithmisch berechnen lassen.
Die Elefanten im Raum
Ironischerweise ist eines der überzeugendsten Projekte der Biennale gleichzeitig das niedrigtechnologischste: Boonserm Premthadas „Elephant Chapel“ aus Elefantendung-Ziegeln. Hier stimmt alles: lokale Materialien, kulturelle Bedeutung, nachhaltiger Kreislauf, poetische Kraft. Es ist Architektur, die demütig mit der Natur kooperiert statt sie zu dominieren.
Solche Projekte zeigen, was „Natural Intelligence“ wirklich bedeuten könnte: nicht die Nachahmung natürlicher Prozesse durch Hightech, sondern die Rückbesinnung auf bewährte Kreisläufe. Lehm, Stroh, Holz – die Materialien der Zukunft sind die Materialien der Vergangenheit. Aber solche simplen Wahrheiten gehen unter in der Kakophonie von 750 Stimmen.
Kollektive Intelligenz oder kollektives Chaos?
Rattis radikalster Ansatz – die Öffnung für alle Disziplinen – verdient Respekt und Skepsis gleichermaßen. „Space for Ideas“ war ein historischer Schritt: zum ersten Mal in 130 Jahren Biennale-Geschichte konnte jeder mitmachen. Das ist demokratisch, inklusiv, zeitgemäß.
Aber ist es auch klug? Ein Orchester mit 750 Musikern produziert nicht automatisch bessere Musik. Manchmal braucht es den Dirigenten, der sagt: „Das reicht.“ Ratti hingegen scheint zu glauben, mehr sei automatisch besser. Das Ergebnis ist eine Biennale, die vor lauter Vielfalt ihre Botschaft verliert.
Als Praktiker wissen wir: Interdisziplinäre Teams funktionieren, aber nur mit klarer Führung und definierten Rollen. Was in Venedig gezeigt wird, ist eher ein Brainstorming-Marathon als ein durchdachtes Konzept. Inspiration ja, aber Klarheit fehlt.
Das Paradigma der Resignation
Rattis Kern-These – der Wechsel von „Mitigation“ zu „Adaptation“ – ist ehrlich, aber deprimierend. Im Klartext bedeutet sie: Wir haben die Klimakrise nicht verhindert, also müssen wir mit ihr leben. Das ist Realismus, aber auch Kapitulation.
Viele Jahre lang haben Architekten und Architektinnen geglaubt, sie könnten die Welt retten durch bessere Gebäude. Diese Illusion ist geplatzt. Unsere Branche verursacht nach wie vor mehr als ein Drittel aller CO2-Emissionen. „Architecture is survival“, sagt Ratti – aber bislang eher Überleben trotz der Architektur als durch sie.
Die Biennale 2025 ist das Eingeständnis des Scheiterns. Statt mutiger Visionen für eine andere Zukunft sehen wir Schadensbegrenzung für eine zerstörte Gegenwart. Das ist ehrlich, aber nicht inspirierend.
Wien zeigt, wie es geht
Zwischen all dem Hightech-Spektakel und der philosophischen Überforderung sticht ein Projekt heraus: der österreichische Pavillon „Agency for a Better Living“. Hier wird nicht theoretisiert, sondern praktiziert. Hundert Jahre Wiener Gemeindebau treffen auf römische Selbstorganisation – zwei funktionierende Modelle für bezahlbares Wohnen.
Das ist konkret, das ist nützlich, das ist übertragbar. Während andere von träumenden Robotern schwärmen, zeigen die Österreicher, wie kollektive Intelligenz praktisch funktioniert: durch bewährte Institutionen und erprobte Verfahren. Langweilig vielleicht, aber wirksam.
Die Falle der falschen Alternative
Die härteste Kritik an Rattis Biennale lautet: Sie stellt eine falsche Alternative auf. Entweder alles bleibt beim Alten (schlecht) oder wir öffnen uns für alle und alles (gut). Doch zwischen rigider Tradition und chaotischer Innovation gibt es einen dritten Weg: selektive Öffnung.
Interdisziplinarität ja, aber gezielt. Technologie ja, aber menschenfreundlich. Partizipation ja, aber strukturiert. Nachhaltigkeit ja, aber ohne Fundamentalismus. Was die Biennale braucht, ist nicht mehr Vielfalt, sondern bessere Kurierung.
Lessons learned für die Zukunft
Trotz aller Kritik: Rattis Experiment war notwendig. Die Architektur musste aus ihrer Komfortzone gerissen werden. Die Zeiten, in denen ein Stararchitekt alle Antworten hatte, sind vorbei. Die Herausforderungen sind zu komplex für Einzelkämpfer.
Aber die Lehre aus Venedig 2025 ist nicht: Macht alles anders. Sie lautet: Macht es besser. Weniger Projekte, dafür durchdachter. Weniger Partizipanten, dafür zielgerichteter. Weniger Technologie-Euphorie, dafür mehr menschliche Weisheit.
Die Biennale als Spiegel
Am Ende ist die Biennale 2025 das perfekte Spiegelbild unserer Disziplin: brilliant und chaotisch, visionär und hilflos, inspirierend und überfordernd. Sie zeigt, was Architektur heute ist – und was sie werden könnte, wenn sie lernt, aus ihren Fehlern zu lernen.
Carlo Ratti hat den Mut gehabt, das Experiment zu wagen. Das verdient Respekt, auch wenn das Ergebnis nicht überzeugt. Die nächste Biennale wird zeigen, ob die Architekturwelt aus Venedig 2025 gelernt hat – oder ob sie weiter in der kollektiven Verwirrung verharrt.
Eines ist sicher: Nach Rattis Revolution ist nichts mehr wie vorher. Ob das gut oder schlecht ist, wird die Geschichte entscheiden.
Die 19. Internationale Architekturausstellung – La Biennale di Venezia „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ läuft noch bis zum 23. November 2025.
Öffnungszeiten:
- Mai bis 28. September: 11:00 – 19:00 Uhr (Freitag/Samstag im Arsenale bis 20:00 Uhr)
- 29. September bis 23. November: 10:00 – 18:00 Uhr
- Geschlossen: Montags (außer 12. Mai, 2. Juni, 21. Juli, 1. September, 20. Oktober, 17. November)
Veranstaltungsorte: Giardini und Arsenale, Venedig
Eintrittspreise:
- Einzelticket: 25€ (gültig für beide Venues)
- Ermäßigt: 22€ (Studierende, Senioren 65+, Gruppen ab 10 Personen)
- Familienticket: Kinder bis 6 Jahre frei
Weitere Informationen: www.labiennale.org/en/architecture/2025

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