Geothermie in Europa: Aufbruch in eine wärmere Zukunft
In einer Zeit, in der die Energiewende dringlicher denn je erscheint, richtet sich der Blick zunehmend auf eine oft übersehene Ressource: die Geothermie. Während Solaranlagen und Windräder das Landschaftsbild prägen, schlummert unter unseren Füßen ein gewaltiges Potenzial, das nun in ganz Europa geweckt werden soll.
Die südungarische Stadt Szeged hat es vorgemacht: Innerhalb von nur zwei Jahren wurde das gesamte Fernwärmesystem auf Geothermie umgestellt. Heute versorgt ein 250 Kilometer langes Netzwerk rund die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner mit Wärme aus der Tiefe. Dieses Projekt ist nicht nur die größte Geothermie-Anlage in der EU, sondern auch ein Vorbild für viele andere Städte.
Das Potenzial ist beeindruckend: Etwa 25 Prozent der EU-Bevölkerung leben in Gebieten mit ausreichend geothermischen Vorkommen für Fernwärme. Dennoch stammen aktuell nur 2,8 Prozent der erneuerbaren Energien und lediglich 0,2 Prozent des Stroms in der EU aus Geothermie. Im Vergleich zu Geothermie-Giganten wie China oder den USA scheint Europa in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen zu stecken.
Doch der Wind dreht sich. Die EU-Kommission fordert eine Verdreifachung des Anteils der Geothermie am Gesamtenergiebedarf bis 2030. Ungarn, das seit Juli die EU-Ratspräsidentschaft innehat, plant eine europäische Geothermie-Allianz, um den Bau neuer Anlagen zu beschleunigen und innovative Finanzierungsmodelle zu entwickeln.
Neben der klassischen Geothermie gibt es auch innovative Ansätze, die offene Gewässer als Wärmequelle nutzen. Forschende aus Edinburgh haben ein neues Heizungssystem entwickelt, das Energie aus Wasser bezieht – der weltweit häufigsten Ressource. Im Gegensatz zu herkömmlichen Wasser-Wärmepumpen, die teure Grundwasserquellen nutzen, arbeitet dieses System kostengünstiger. Es kann Meerwasser, Flüsse, Teiche und sogar Grubenwasser verwenden, um Heizkörper sowie Warmwasser für Bäder und Duschen zu versorgen.
Das als SeaWarm bezeichnete System sammelt das Wasser in einer großen runden Wanne mit einem Fassungsvermögen von 3,7 Kubikmetern. Es kann Wasser aus einer Quelle nutzen, die bis zu 500 Meter vom Gebäude entfernt ist. Diese kompakten und leicht zu transportierenden Prototypen eignen sich besonders für den Einsatz in Haushalten und kleineren Gebäuden, vor allem in ländlichen Gebieten und Küstenregionen.
Man schätzt, dass bisher maximal zehn Prozent des Potenzials in der EU genutzt werden. „Beim Thema Energiewende wurde bis vor ein paar Jahren hauptsächlich über Strom und Mobilität, aber kaum über Wärme gesprochen, obwohl die Hälfte des Endenergiebedarfs aufs Heizen und Kühlen entfällt“, erklären Experten.
Die Vielseitigkeit der Geothermie ist beeindruckend. Die oberflächennahe Geothermie, die Wärme bis zu einer Tiefe von 300 bis 400 Metern nutzt, ist relativ einfach und fast überall umsetzbar. Bei der Tiefengeothermie, bei der mehrere Kilometer tief gebohrt wird, können die höheren Temperaturen kaskadisch genutzt werden: zuerst für industrielle Prozesse und Fernwärmenetze, dann als Abwärme für die Raumheizung.
Ein faszinierendes Beispiel findet sich in Bad Blumau, Österreich. Hier haben sich Gemüsebauern zusammengetan, um 125 Grad warmes Thermalwasser aus 3500 Meter Tiefe zum Beheizen ihrer Gewächshäuser zu nutzen. Diese innovative Lösung hilft nicht nur beim Energiesparen, sondern beugt auch Wetterschäden vor.
Doch die Geothermie steht vor Herausforderungen. Bei der oberflächennahen Variante reicht die Wärme oft nicht für einen größeren Bedarf. Die Tiefengeothermie wiederum erfordert kostspielige Erkundungsbohrungen, die nicht immer erfolgreich sind. In Wien dauerte es Jahre, bis das Aderklaaer Konglomerat, ein Wasserreservoir in 3500 Meter Tiefe, erfolgreich angezapft wurde.
Um das volle Potenzial der Geothermie zu nutzen, sind einheitliche Standards auf EU-Ebene nötig. Derzeit existieren in vielen Ländern unterschiedliche Auflagen und Genehmigungsverfahren. Eine Vereinheitlichung würde besonders den Bau von Anlagen in Grenzregionen erleichtern.
Um die Geothermie in Europa voranzubringen, ist zunächst eine flächendeckende Erhebung des Potenzials und ein leichterer Zugang zu Daten erforderlich. Man schätzt, dass Wärme aus der Tiefe in manchen Gegenden künftig bis zu drei Viertel des Wärmebedarfs decken könnte.
Die Geothermie steht in Europa noch am Anfang, aber ihr Potenzial ist gewaltig. Mit der richtigen Mischung aus politischem Willen, technologischer Innovation und gemeinschaftlichem Engagement könnte sie zu einem Eckpfeiler der europäischen Energiewende werden. Die Wärme unter unseren Füßen und in unseren Gewässern könnte der Schlüssel zu einer nachhaltigeren und unabhängigeren Energiezukunft sein. mehr…