Baukunst-Zwischen Betonwüsten und Wohlfühloasen: Macht uns Architektur wirklich glücklicher?AC
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Zwischen Betonwüsten und Wohlfühloasen: Macht uns Architektur wirklich glücklicher?

16.11.2024
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stu.ART

 

  1. Die unsichtbare Kraft der Architektur

Architektur umgibt uns, formt unser Leben und unsere Wahrnehmung. Doch während wir selbstverständlich über Einrichtungstrends und Design sprechen, bleibt die Frage oft unbeachtet: Macht uns Architektur glücklich? Oder gibt es Aspekte, die uns – unbewusst – belasten? Tatsächlich kann die Gestaltung von Gebäuden und Räumen tiefgreifende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben. Studien zeigen, dass Licht, Raumaufteilung, Materialien und Farben weit mehr als nur ästhetische Funktionen erfüllen. Sie beeinflussen unsere Psyche und unsere Gesundheit. In den letzten Jahren hat das Interesse an Wohnpsychologie zugenommen. Experten wie Melanie Fritze verdeutlichen, dass Räume wie ein „Kashmir-Pullover“ sein sollten: angenehm, anpassungsfähig und beruhigend, nicht kratzig und unkomfortabel . Doch oft genug fühlen sich Wohnungen wie dieser Pullover an, der zwar schick aussieht, aber unbequem ist. Das ist mehr als nur eine Frage des Geschmacks – es geht um tieferliegende Bedürfnisse, die oft ignoriert werden.

  1. Licht – Der unterschätzte Faktor

„Schlechtes Licht macht unglücklich“, sagte der legendäre Lichtdesigner Ingo Maurer. Und er hatte recht . Licht ist ein fundamentaler Aspekt der Architektur, der sowohl unsere Stimmung als auch unseren biologischen Rhythmus beeinflusst. Helles, natürliches Licht stimuliert die Produktion von Serotonin und Cortisol, während Dunkelheit die Ausschüttung von Melatonin fördert – dem Hormon, das für unseren Schlaf verantwortlich ist. In modernen Gebäuden jedoch dominiert oft künstliches Licht mit hohem Blauanteil, das zu Schlafstörungen und allgemeiner Unruhe führen kann. Der Trend hin zu flexiblen Lichtlösungen wie „Sunset Dimming“, das die Farben des Sonnenuntergangs imitiert, zeigt, dass die Branche aufwacht. Doch trotz innovativer Ansätze bleibt die Frage: Wird ausreichend Wert auf gutes Licht gelegt? Besonders in Büros und öffentlichen Gebäuden klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Realität .

  1. Der Einfluss von Raum und Form

Nicht nur Licht, sondern auch die Raumgestaltung spielt eine zentrale Rolle. Die französische Architektin Iwona Buczkowska stellt fest: „Für mich ist es unmöglich, in einer rechteckigen Architektur glücklich zu sein.“ Ihre Entwürfe brechen bewusst mit standardisierten, rechteckigen Formen und schaffen komplexe, lichtdurchflutete Räume mit vielschichtigen Perspektiven . Während Standardbauten oft monoton wirken und die Menschen sich darin verloren fühlen, erzeugen Buczkowskas Entwürfe das Gefühl von Freiheit und Weite – und das trotz geringer Quadratmeterzahlen. Warum bevorzugen wir dann so häufig funktionale, rechteckige Entwürfe? Die Antwort liegt in Kosten und Effizienzdenken. Gerade im sozialen Wohnungsbau wird häufig auf standardisierte Bauweisen gesetzt, die zwar kostengünstig sind, jedoch oft auf Kosten der Lebensqualität gehen. Doch Studien zeigen: Gebäude, die sich stärker an den menschlichen Bedürfnissen orientieren, fördern das Wohlbefinden und senken langfristig sogar Kosten, etwa durch geringere Gesundheitsausgaben .

  1. Langweilige Architektur und das „Blandemic“-Problem

Der britische Designer Thomas Heatherwick warnt vor einer „globalen Blandemic“ – einer Flut langweiliger, uninspirierter Architektur, die unsere Städte dominiert und uns regelrecht depressiv macht . In seinem Buch „Humanise“ kritisiert er die Tendenz moderner Architekten, Gebäude zu entwerfen, die zwar funktional, aber emotional leer sind. Heatherwick fordert, dass Gebäude wieder mehr „Interessantheit“ bieten sollten, auch wenn das bedeutet, unkonventionelle Materialien oder auffällige Details zu nutzen. Das Problem langweiligen Designs liegt nicht nur im ästhetischen Mangel. Es geht um mehr: Unsere Körper reagieren nachweislich auf eintönige, flache Oberflächen mit Stress. Architektur, die keine visuelle Komplexität bietet, führt zu einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen und beeinträchtigt unser Wohlbefinden. Heatherwick fordert Architektinnen und Architekten auf, darüber nachzudenken, was ihre Gebäude der Gesellschaft zurückgeben – nicht nur im Sinne von Funktionalität, sondern auch im Hinblick auf emotionale Resonanz .

  1. Wohnpsychologie: Mehr als nur Design

Wohnpsychologie ist eine Disziplin, die darauf abzielt, unsere Lebensräume an unsere psychologischen Bedürfnisse anzupassen. Dabei geht es nicht nur um ästhetische Fragen, sondern um fundamentale Bedürfnisse wie Privatheit, Erholung und Sicherheit. Oft kollidieren moderne Wohntrends jedoch mit diesen Bedürfnissen. Offene Grundrisse und bodentiefe Fenster sind zwar beliebt, bieten aber wenig Schutz und Rückzugsmöglichkeiten. So können minimalistische Designs und moderne Trends das Wohlbefinden eher mindern als fördern . Experten wie Harald Deinsberger-Deinsweger betonen, dass wir die Wirkung von Räumen auf uns oft unterschätzen. Eine Studie der Universität Lund zeigt, dass Menschen in farbenfrohen Räumen mehr Alphawellen produzieren, die als Zeichen von Entspannung gelten . Umgekehrt können monotone, graue Räume zu erhöhtem Stress und Unwohlsein führen.

  1. Was können wir besser machen?

Was also ist zu tun? Heatherwick, Buczkowska und andere visionäre Architekten zeigen, dass es möglich ist, Räume zu schaffen, die sowohl funktional als auch emotional ansprechend sind. Buczkowskas Ansatz im sozialen Wohnungsbau – komplexe, individuelle Grundrisse und durchdachte Lichtführung – ist ein Beispiel dafür, wie auch mit geringem Budget inspirierende Architektur entstehen kann . Die Einbindung von Wohnpsychologen in die Planungsprozesse könnte helfen, Gebäude von Anfang an menschengerechter zu gestalten. Der Fokus sollte nicht nur auf Funktion und Kosteneffizienz liegen, sondern auf dem, was Menschen wirklich brauchen, um sich wohlzufühlen. Denn letztlich ist gute Architektur ein Ausdruck von Empathie und ein Beitrag zur Lebensqualität.

Fazit: Die Chance auf bessere Räume

Architektur kann uns glücklich machen – wenn sie mehr ist als reine Funktionalität und Kostenoptimierung. Wenn sie sich an den menschlichen Bedürfnissen orientiert, kreative Ansätze verfolgt und uns mit Vielfalt statt Monotonie überrascht. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig unsere Umgebung für unser Wohlbefinden ist. Jetzt ist die Zeit gekommen, Architektur neu zu denken und Räume zu schaffen, die uns nicht nur umgeben, sondern wirklich bereichern.