Liebe Kollegin , lieber Kollege,
Es gibt Momente im Leben eines Architekten, in denen der Rückgriff auf die Einfachheit und Ursprünglichkeit der Schöpfung eine fast therapeutische Wirkung entfaltet. Einer dieser Momente ist das Sandburgbauen. Man mag sich fragen, was einen professionellen Planer, der für hochmoderne Gebäude und innovative Stadtkonzepte verantwortlich ist, dazu bewegt, sich in der Freizeit an den Strand zu setzen und aus nichts anderem als feuchtem Sand beeindruckende Konstruktionen zu formen.
Mit dem nahenden Sommer und einem möglichen Urlaub am Strand rückt diese Frage wieder in den Fokus. Wie die kindliche Freude am Formen und Gestalten sich in der Schaffung einer Sandburg äußert, so liegt auch der Ursprung jeder architektonischen Meisterleistung in der spielerischen Kreativität. In beiden Fällen beginnt alles mit einer Idee und einem Haufen Rohmaterial. Doch während in der Welt der Betonmischer und CAD-Programme jede noch so kleine Entscheidung von unzähligen Normen und Vorschriften beeinflusst wird, herrscht am Strand pure Freiheit. Hier kann man wirklich alles sein – der Entwerfer, der Bauherr und der ausführende Bauarbeiter in einer Person.
Der Vergleich liegt nahe: Während Architekten ihre Tage oft in sterilen Büros verbringen, bietet der Sommerurlaub am Strand die perfekte Gelegenheit, die Schuhe auszuziehen, die Füße in den Sand zu graben und die Hände frei walten zu lassen. Es scheint, als ob Sandburgenbauen die perfekte Allegorie für den kreativen Prozess eines Architekten ist. Die Unbeständigkeit des Materials erinnert uns an die Flüchtigkeit vieler architektonischer Trends, während die Strukturen, die mit bloßen Händen geformt werden, die Essenz des Entwerfens und Bauens widerspiegeln. Manchmal sind die einfachsten Mittel die effektivsten, um die größten Visionen zu verwirklichen – und was könnte einfacher sein als Sand und Wasser?
Doch auch in der Einfachheit liegt eine gewisse Komplexität. Die perfekte Sandburg verlangt nach strategischem Denken: Wie erreicht man maximale Stabilität? Welche Techniken verhindern das vorzeitige Einstürzen der Türme? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine ebenso fundierte Herangehensweise wie die Planung eines realen Bauwerks. Es gibt keine Bauverordnungen, aber die Gesetze der Physik sind allgegenwärtig.
Ein weiteres faszinierendes Paradox ist die Vergänglichkeit der Sandburg im Vergleich zur Langlebigkeit eines Gebäudes. Während Architekten ihre Entwürfe für die Ewigkeit planen, sich mit Windlasten, Erdbebensicherheit und Nachhaltigkeit auseinandersetzen, ist die Sandburg ein Werk für den Moment. Ein Windstoß, eine Flutwelle oder ein spielender Hund können die mühselig errichteten Türme und Wälle binnen Sekunden zerstören. Doch gerade diese Vergänglichkeit macht den Reiz aus – sie erinnert uns daran, dass nicht alles für immer bestehen muss, um wertvoll zu sein.
Letztendlich bleibt das Sandburgbauen für den Architekten mehr als nur ein harmloser Zeitvertreib. Es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln, eine Meditation über die Essenz des Bauens und eine Hommage an die Schönheit des Einfachen. Mit dem Sommer vor der Tür und der Aussicht auf Strandurlaube, ist es die perfekte Zeit, die Schaufeln und Eimer einzupacken und sich daran zu erinnern, dass die größten Freuden oft in den kleinsten Dingen liegen. Vielleicht liegt genau hierin die wahre Kunst: Die Fähigkeit, Großes in kleinem Maßstab zu sehen und zu erschaffen. Also, liebe Architekten, greifen Sie das nächste Mal am Strand zur Schaufel – Ihre inneren Kinder werden es Ihnen danken.
Herzlichst Ihr
Stuart Stadler,
Architekt ByAk