Baukunst - Baukunst und Moral
© Coop Himmelb(l)au Kemerovo Museum and Theater Complex

Baukunst und Moral

07.07.2024
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stu.ART

 

Liebe Kollegin, lieber Kollege,

Architektur prägt unser tägliches Leben und gestaltet die Gesellschaft. Dabei ist sie weit mehr als die bloße Errichtung von Gebäuden. Sie schafft Räume für Begegnungen, fördert das Gemeinschaftsgefühl und trägt maßgeblich zur Lebensqualität bei. In einer Zeit, in der Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung immer wichtiger werden, steht die Baukunst vor neuen Herausforderungen. Es gilt, ethische Maßstäbe zu setzen und den Menschen in den Mittelpunkt des architektonischen Schaffens zu stellen.

Baukunst trägt eine immense Verantwortung für das Wohlbefinden der Menschen. Sie schafft nicht nur identitätsstiftende Orte, sondern trägt auch zur sozialen Integration bei. Der öffentliche Raum, als Herzstück unserer Städte, bietet Platz für Begegnungen und fördert die Gemeinschaft. Ein gelungenes Beispiel hierfür ist the High Line & Hudson Yards in New York, die durch seine durchdachte Gestaltung sowohl Erholungsraum als auch sozialer Treffpunkt geworden ist.

Architektur ist Ausdruck kultureller Identität. Sie reflektiert die Geschichte und die Werte einer Gesellschaft. Historische Gebäude erzählen Geschichten und bewahren das kulturelle Erbe. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass neue Bauwerke diese Tradition fortschreiben und respektvoll mit der Vergangenheit umgehen. Ein hervorragendes Beispiel ist das Yad Vashem Holocaust-Museum in Jerusalem, in Jerusalem, das durch seine Architektur die Geschichte der Opfer des Holocausts bewahrt und gleichzeitig modernste architektonische Ansprüche erfüllt.

Die Baukunst der Zukunft muss nachhaltig sein. Dies bedeutet nicht nur den Einsatz umweltfreundlicher Materialien, sondern auch die Schaffung energieeffizienter Gebäude. Vorreiter auf diesem Gebiet ist das Powerhouse Brattørkaia in Trondheim, Norwegen. Es handelt sich um das nördlichste energiepositive Gebäude der Welt, das mehr Energie produziert, als es im Laufe seines Lebenszyklus verbraucht, das den Energieverbrauch auf ein Minimum reduziert und dennoch hohen Arbeitskomfort bietet. Durch die Verwendung erneuerbarer Energien und die Integration von Grünflächen tragen solche Gebäude zur ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit bei.

Architektinnen und Architekten müssen sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst sein. Großprojekte in autoritären Regimen werfen immer wieder moralische Fragen auf. Ist es vertretbar, für solche Auftraggeber zu arbeiten? Ein Blick auf die umstrittenen Projekte in den Vereinigten Arabischen Emiraten zeigt, wie komplex diese Fragen sind. Hier sind Architektinnen und Architekten gefordert, ihre Entscheidungen sorgfältig abzuwägen und ihre berufliche Integrität zu bewahren.

Architekten rechtfertigen oft unmoralische Projekte auf verschiedene Arten. Viele Architekten wie Zaha Hadid sagen, sie hätten „nichts mit den Arbeitern zu tun“, die auf ihren Baustellen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Sie schieben die Verantwortung auf andere ab. Architekten wie Rem Koolhaas argumentieren, sie könnten es sich nicht leisten, „bedeutende Aufträge“ abzulehnen, da sie sonst ihr Geschäft gefährden würden. Manche Architekten wie Ben Flatman meinen, Ethik sei nur eine Frage des persönlichen Gewissens, nicht der professionellen Verantwortung. Einige Architekten argumentieren, dass ihre Bauten auch dann einen historischen Wert haben, wenn sie für unethische Zwecke errichtet wurden. Da es oft an klaren ethischen Richtlinien für Architekten mangelt, können sie unmoralische Projekte ohne Konsequenzen annehmen.

Insgesamt zeigt sich, dass viele Architektinnen und Architekten ihre Verantwortung für die ethischen Folgen ihrer Arbeit leugnen oder relativieren. Sie stellen ihre Geschäftsinteressen über moralische Bedenken. Eine stärkere Regulierung und Selbstverpflichtung der Branche wäre nötig, um solche Praktiken einzudämmen.

Die Herausforderungen der Zukunft können nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit bewältigt werden. Baukunst benötigt die Kooperation von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen. Der Dialog zwischen Architektinnen und Architekten, Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Stadtplanerinnen und Stadtplanern ist entscheidend, um innovativeund nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist das BedZED (Beddington Zero Energy Development) in London,, das durch seine ganzheitliche Planung Maßstäbe gesetzt hat.

Leidenschaft und Kreativität sind die treibenden Kräfte hinter herausragender Baukunst. Architektinnen und Architekten müssen offen für neue Denkansätze und bereit sein, traditionelle Wege zu verlassen. Die Symbiose aus technischem Know-how und künstlerischer Kreativität führt zu einzigartigen Lösungen. So zeigt die Elbphilharmonie in Hamburg, wie Architektur zu einem Kunstwerk werden kann und gleichzeitig die Stadtentwicklung positiv beeinflusst.

Die Ausbildung zukünftiger Architektinnen und Architekten muss diese Aspekte berücksichtigen. Eine Reform der Lehre, die Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und technische Innovationen in den Mittelpunkt stellt, ist unerlässlich. Forschung und Experiment sind dabei zentrale Elemente. Die Universitäten sollten Plattformen bieten, auf denen Studierende und Forschende gemeinsam neue Wege erproben und die Baukunst weiterentwickeln können. Ein Beispiel hierfür ist das Design Research Laboratory (DRL) der Architectural Association in London, das durch seine innovative Forschung und Lehre neue Maßstäbe setzt.

Baukunst ist mehr als das Erschaffen von Gebäuden. Sie formt unsere Lebensräume, spiegelt unsere Kultur wider und trägt maßgeblich zur Lebensqualität bei. In Zeiten globaler Herausforderungen müssen Architektinnen und Architekten ihre ethische Verantwortung ernst nehmen und nachhaltig sowie sozial gerecht bauen. Nur so kann die Baukunst ihrer Rolle gerecht werden und einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Der Blick in die Gegenwart zeigt, dass durch verantwortungsvolle und innovative Architektur eine bessere und lebenswerte Welt möglich ist. Es liegt in den Händen der Architektinnen und Architekten, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

Herzlichst Ihr

Stuart Stadler
Architekt TUM