Baukunst - Die Strohmänner von Erbsen - Wie ein Dorf die Baubranche revolutioniert
© Rudy and Peter Skitterians/Pixabay

Die Strohmänner von Erbsen – Wie ein Dorf die Baubranche revolutioniert

22.12.2024
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stu.ART

 

Wer durch das niedersächsische Dorf Erbsen fährt, traut seinen Augen kaum: Mitten im 400-Seelen-Ort wächst ein Gebäude empor, das die traditionelle Baukunst radikal neu interpretiert. Das entstehende Dorfgemeinschaftshaus trägt sein Dach auf reinen Strohballen – ohne zusätzliche Stützen. Ein mutiges Statement in Zeiten explodierender Baukosten und verschärfter Klimaziele.

Revolutionäre Bauweise mit Geschichte

„Das ist so dauerhaft, dass wir mit einer Lebensdauer von 100 Jahren oder mehr rechnen“, erklärt Architektin Anna Dienberg selbstbewusst. Die innovative Planerin kam während ihres Studiums in Österreich mit der Strohballentechnikin Berührung. Was auf den ersten Blick experimentell wirkt, basiert auf durchdachter Ingenieurskunst: Die großen Strohquader werden präzise übereinandergestapelt und tragen das ebenfalls strohgedämmte Dach – Fachleute sprechen von lasttragender Bauweise.

Mehr als nur ökologisches Bauen

Die Bauphysik spricht eine klare Sprache: Mit einer Wärmeleitfähigkeit von 0,049 W/(m*K) übertrifft das Strohballenhaus sogar die Dämmwerte eines Passivhauses. „Eine Tonne Stroh bindet 1,5 Tonnen CO₂“, erläutert Dr.-Ing. Stefan Helbig von der Bauhaus-Universität Weimar. Bei 60 verbauten Großballen à 370 Kilogramm speichert allein das Erbsener Projekt 33 Tonnen CO₂ – vergleichbar mit dem Ausstoß eines PKW über 150.000 Kilometer.

Vorurteile und technische Herausforderungen

„Was ist bei Feuer? Was ist mit Mäusen und Schimmel?“ – Diese Fragen begegnen Dienberg häufig. Ihre Antworten überzeugen: Das stark komprimierte Stroh, vergleichbar mit einem zusammengepressten Telefonbuch, ist schwer entflammbar. Der mehrschichtige Aufbau mit Lehm- und Kalkputz erreicht die Brandschutzklasse F90. Die dichte Packung verhindert zudem Schädlingsbefall.

Genehmigungsverfahren als Hürde

Da diese Bautechnik noch nicht standardisiert ist, musste der Bauantrag bis zur obersten Baubehörde. Der Gemeinderat des Fleckens Adelebsen bewies mit zehn Ja-Stimmen und sechs Enthaltungen Mut zur Innovation. „Als öffentliche Einrichtung können wir mit gutem Beispiel vorangehen“, betont Ortsbürgermeister Christof Schmidt.

Nachhaltiges Potenzial

Die Zahlen beeindrucken: Deutschlandweit stehen jährlich sieben Millionen Tonnen ungenutztes Stroh zur Verfügung. Theoretisch ließen sich damit 140.000 Strohballenhäuser errichten – ein gewaltiges Potential für die Bauwende. Der Baustoff wächst jährlich nach, ist regional verfügbar und schafft ein ausgezeichnetes Raumklima.

Fazit: Mehr als ein Experimentalbau

Das Erbsener Dorfgemeinschaftshaus demonstriert eindrucksvoll, wie zukunftsfähiges Bauen aussehen kann. Es vereint traditionelles Handwerk mit modernen Nachhaltigkeitsanforderungen und beweist: Innovatives Bauen muss weder kompliziert noch teuer sein. In Zeiten des Klimawandels und knapper Ressourcen könnte dieses unscheinbare Dorf in Niedersachsen der Baubranche den Weg in eine nachhaltigere Zukunft weisen.