
Der verspätete Wandel: Wie Deutschlands Architekturbüros gegen den demografischen Kollaps kämpfen
Die jüngste Strukturumfrage der Bundesarchitektenkammer zeichnet ein vielschichtiges Bild der deutschen Architekturlandschaft. Durchgeführt zwischen Mai und Juni 2024, erreichte die Befragung mit einer Rücklaufquote von 18,4 Prozent eine solide Datenbasis für fundierte Aussagen über den Zustand des Berufsstands. Was dabei besonders auffällt: Ein Fach im demografischen Wandel steht vor enormen Herausforderungen, während es gleichzeitig wirtschaftlich prosperiert. Diese scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen werfen wichtige Fragen zur Zukunftsfähigkeit der Branche auf.
Graue Haare, große Büros – der demografische Wandel greift um sich
Mit einem Durchschnittsalter von 49 Jahren kann man die Architektenschaft kaum als junge Berufsgruppe bezeichnen. Besonders beunruhigend: Bei den Selbstständigen stieg das mittlere Alter seit 2015 von 53 auf 55 Jahre. Gleichzeitig wuchs der Anteil der über 60-Jährigen unter den Büroinhabern auf 30 Prozent – eine Zunahme um beachtliche zehn Prozentpunkte binnen acht Jahren. Was auf den ersten Blick wie ein Alarmzeichen wirkt, spiegelt schlicht den demografischen Wandel wider, der viele Branchen in Deutschland erfasst hat.
Interessanterweise sind die Geschlechterstrukturen stark von der Beschäftigungsform abhängig. Während Selbstständige zu 70 Prozent männlich sind, überwiegen bei den Angestellten knapp die Frauen mit 52 Prozent. Dies deutet auf einen langsamen, aber stetigen Kulturwandel hin, der allerdings noch nicht die Führungsebenen erreicht hat. Besonders in der Innenarchitektur dominieren Frauen mit 76 Prozent – ein Beispiel für fachrichtungsspezifische Differenzen, die oft übersehen werden.
Überstunden rückläufig, Teilzeit im Aufwind
Erfreulicherweise zeigt die Statistik einen deutlichen Rückgang bei den Überstunden. Zwar leisten noch immer 61 Prozent der Angestellten regelmäßig mehr Arbeit als vertraglich vereinbart, doch diese Quote ist im Vergleich zu früheren Erhebungen merklich gesunken. Möglicherweise ein Zeichen dafür, dass der vielbeschworene Work-Life-Balance-Gedanke auch in der notorisch arbeitsintensiven Architekturbranche ankommt.
Parallel dazu steigt die Teilzeitquote kontinuierlich an – von 16 Prozent im Jahr 2019 auf aktuell 21 Prozent bei den Selbstständigen. Bei männlichen Angestellten verdoppelte sich der Anteil der Teilzeitkräfte seit 2017 sogar von acht auf 16 Prozent. Dieses Umdenken ist bemerkenswert in einer Branche, die traditionell mit überlangen Arbeitszeiten und Nachtschichten assoziiert wurde. Der gesellschaftliche Wertewandel setzt sich offenbar durch, auch wenn die durchschnittliche Wochenarbeitszeit vollzeittätiger Selbstständiger mit 49 Stunden weiterhin weit über dem gesetzlichen Maß liegt.
Wirtschaftliche Kennzahlen: Steigende Überschüsse und wachsende Büros
In wirtschaftlicher Hinsicht präsentiert sich die Branche robust. Die Überschüsse je Inhaber stiegen seit 2013 um beachtliche 57 Prozent auf durchschnittlich 74.000 Euro im Jahr. Mit wachsender Bürogröße steigen diese Überschüsse überproportional – von 49.500 Euro bei Einzelunternehmen bis zu 190.000 Euro in Büros mit mehr als zehn Mitarbeitenden. Diese Zahlen rechtfertigen den Trend zu größeren Bürostrukturen: Der Anteil der Inhaber von Büros mit mindestens fünf Beschäftigten wuchs von rund 20 Prozent in den Jahren 2013/2015 auf nun 27 Prozent.
Immer mehr Architektinnen und Architekten entscheiden sich für alternative Rechtsformen. Zwar dominieren noch immer die Einzelunternehmen mit 66 Prozent, doch der Anteil der als Partnerschaftsgesellschaft oder GmbH organisierten Büros ist kontinuierlich gestiegen. Der Hauptgrund dürfte in der besseren Haftungsabsicherung und den steuerlichen Vorteilen liegen, die diese Rechtsformen bieten – vor allem für größere Büros mit mehreren Partnern.
Gender Pay Gap und unterschiedliche Gehaltsniveaus
Trotz aller Fortschritte offenbart die Umfrage weiterhin einen signifikanten Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern. In allen untersuchten Beschäftigungsgruppen erhalten vollzeittätige Männer höhere Gehälter als ihre weiblichen Kolleginnen. Diese Diskrepanz bleibt auch dann bestehen, wenn man Faktoren wie Berufserfahrung und Position berücksichtigt.
Die Gehaltsspannen variieren zudem erheblich je nach Arbeitgeber. Während Angestellte in Planungsbüros im Median 58.000 Euro verdienen, liegt das mittlere Gehalt in der Privatwirtschaft bei 82.000 Euro – eine Differenz von 41 Prozent. Der öffentliche Dienst positioniert sich mit 72.000 Euro (Angestellte) beziehungsweise 77.000 Euro (Beamte) dazwischen. Erfreulich: Die mittleren Gehälter stiegen seit 2021 um neun Prozent – ein Wert, der zumindest teilweise die Inflation ausgleicht.
Die HOAI verliert an Bedeutung
Besonders auffällig ist der Bedeutungsverlust der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Wurden 2017 noch 70 Prozent der Honorare auf Basis dieser Ordnung abgerechnet, sank dieser Wert kontinuierlich auf nun 49 Prozent. Gleichzeitig gewinnen Stundensätze (22 Prozent) und Pauschalhonorare (16 Prozent) an Bedeutung. Die Entwicklung deutet auf einen grundlegenden Wandel im Geschäftsmodell hin, der durch das EuGH-Urteil zur HOAI zusätzlich beschleunigt wurde.
Die in Rechnung gestellten Stundensätze sind seit 2015 deutlich gestiegen – je nach Qualifikation zwischen 27 und 38 Prozent. Hier zeigt sich eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung, die allerdings nicht alle Büros gleichermaßen erreicht. Denn kleine Praxen zahlen nicht nur niedrigere Stundensätze, sondern werden auch durch die Berufshaftpflichtversicherung prozentual stärker belastet als große Büros.
Bauanträge und Fehlerhäufigkeit
Ein alarmierendes Ergebnis liefert die Befragung der Beschäftigten in Bauverwaltungen: Durchschnittlich 59 Prozent der bearbeiteten Bauanträge sind fehlerhaft oder unvollständig. Unvollständige Antragsunterlagen (77 Prozent) führen die Liste der Mängel mit weitem Abstand an. Interessanterweise scheint die Digitalisierung des Antragswesens bislang nicht zu einer Qualitätsverbesserung beizutragen – ein Warnsignal für alle Beteiligten.
Die in Bauverwaltungen tätigen Kammermitglieder bearbeiten im Durchschnitt 95 Bauanträge pro Jahr, wobei bisher nur 30 Prozent digital eingereicht werden. Angesichts der hohen Fehlerquoten überrascht es nicht, dass 33 Prozent der Verwaltungsmitarbeitenden regelmäßige Schulungen der Antragsteller als wichtigste Verbesserungsmaßnahme empfehlen.
Fazit: Eine Branche zwischen Tradition und Innovation
Die aktuelle Strukturumfrage zeichnet das Bild einer Branche im Umbruch. Einerseits prosperieren Architekturbüros wirtschaftlich, andererseits stehen sie vor demographischen Herausforderungen und einem sich wandelnden Arbeitsmarkt. Die steigenden Teilzeitquoten und der Rückgang bei den Überstunden zeigen, dass neue Arbeitsmodelle auch in der Architektur ankommen – eine notwendige Entwicklung, um für junge Fachkräfte attraktiv zu bleiben.
Die Überalterung der Selbstständigen, verbunden mit dem geringen Anteil weiblicher Büroinhaberinnen, deutet auf anhaltende strukturelle Probleme hin. Der Beruf muss attraktiver für den Nachwuchs werden, will er nicht in eine demografische Falle tappen. Gleichzeitig erfordern die wachsende Bürogröße und Komplexität der Aufgaben neue Führungs- und Organisationskompetenzen, die stärker in der Ausbildung verankert werden sollten.
Die deutsche Architekturbranche steht damit vor der Herausforderung, ihre wirtschaftliche Stärke zu nutzen, um den notwendigen Wandel aktiv zu gestalten – eine Bauaufgabe, die mindestens so komplex ist wie die Projekte, die sie täglich betreut.

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