
Stefano Boeri – Zwischen Baumarchitektur und juristischem Zwielicht
Der „Baumhausarchitekt“ und die Vorwürfe der Manipulation
Der renommierte Mailänder Architekt Stefano Boeri, international bekannt für seine visionären „vertikalen Wälder“ wie den Bosco Verticale, sieht sich mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert. Die Mailänder Staatsanwaltschaft strebt Hausarrest für ihn und seinen Kollegen Cino Zucchi an. Beiden wird vorgeworfen, bei der Vergabe des prestigeträchtigen Auftrags für die Europäische Bibliothek für Information und Kultur (BEIC) unzulässige Absprachen getroffen zu haben.
Als Vorsitzender der Auswahlkommission soll Boeri gemeinsam mit Zucchi die Anonymität des Ausschreibungsverfahrens verletzt haben. Konkret geht es um Kontakte mit Pier Paolo Tamburelli, einem Architekten des letztendlich erfolgreichen Studiokonsortiums unter Führung von Onsitestudio. Diese Vorgänge werfen einen dunklen Schatten auf das sonst so lichtdurchflutete Werk des Stararchitekten.
Die BEIC – Ein architektonisches Prestigeprojekt im Fokus der Justiz
Das ambitionierte Bibliotheksprojekt im Mailänder Stadtteil Porta Vittoria wurde 2022 nach einem internationalen Wettbewerb an ein Konsortium unter Leitung von Onsitestudio vergeben. Aus 44 Bewerbungen hatte die von Boeri geleitete Kommission diesen Entwurf ausgewählt – ein Entscheidungsprozess, der nun von der Staatsanwaltschaft kritisch durchleuchtet wird.
Die Vorwürfe wiegen schwer: Die Staatsanwaltschaft spricht von „Kollusion“ zwischen den Jurymitgliedern und den siegreichen Architektenteams. Die Ermittler stützen ihre Anschuldigungen auf nachgewiesene Kontakte zwischen den Kommissionsmitgliedern und Tamburelli, die gegen die strengen Anonymitätsvorschriften bei öffentlichen Ausschreibungen verstoßen haben sollen.
Ein Bibliothekar im digitalen Zeitalter – Die architektonische Vision der BEIC
Trotz der juristischen Turbulenzen verdient das BEIC-Projekt selbst Beachtung: Als digitale Wissenszentrale für das 21. Jahrhundert konzipiert, soll die Bibliothek traditionelle Buchbestände mit modernsten digitalen Ressourcen verbinden. Der siegreiche Entwurf sieht eine innovative Struktur aus Stahl und Glas vor, die von begrünten Plätzen umgeben wird – eine Verschmelzung von Wissen, Technologie und Nachhaltigkeit.
Diese Vision entspricht Boeris charakteristischem Ansatz, Natur und Architektur zu vereinen – ein Konzept, das seinen Bosco Verticale zu einer Ikone zeitgenössischer Bioarchitektur gemacht hat. Die begrünten Hochhäuser repräsentieren seine Philosophie, dass Gebäude nicht nur menschliche Bedürfnisse erfüllen, sondern auch ökologische Funktionen übernehmen können.
Zwischen Verteidigung und Vertrauensbekundungen
Sowohl Boeri als auch Zucchi haben auf die Vorwürfe mit Überraschung reagiert. „Ich bin sowohl überrascht als auch äußerst schockiert,“ erklärte Boeri gegenüber dem Architekturmagazin Dezeen. Er betonte, dass er „zuversichtlich das Treffen mit dem Untersuchungsrichter erwarte, um endlich meine Position zu klären.“
Zucchi äußerte sich in ähnlicher Weise gegenüber der italienischen Tageszeitung Corriere Della Sera: „Die große Sorgfalt, mit der ich an der Arbeit der BEIC-Wettbewerbsjury teilgenommen habe, macht mich völlig gelassen in Bezug auf die laufenden Ermittlungen, und ich hoffe, dass die Konfrontation mit den Staatsanwälten meine vollständige Nichtbeteiligung an den beanstandeten Sachverhalten demonstrieren kann.“
Unterstützung erhalten die Architekten von der BEIC-Stiftung selbst, die „volles Vertrauen in die Arbeit der von Architekt Boeri geleiteten Kommission“ bekundet. Auch das Triennale Milano Museum, dessen Präsident Boeri ist, stellte sich hinter ihn und drückte seine „volle Unterstützung“ aus.
Mailand – Eine Stadt im Bauboom und unter dem Mikroskop der Justiz
Der Fall Boeri ist kein Einzelfall. Die Mailänder Staatsanwaltschaft hat in den letzten Monaten zahlreiche Bauprojekte in der norditalienischen Metropole ins Visier genommen. Diese Untersuchungen haben zu einer beunruhigenden Entwicklung geführt: Mehrere bedeutende Bauvorhaben wurden auf Eis gelegt, während die Behörden mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von beschleunigten Baugenehmigungen prüfen.
Diese juristische Offensive trifft Mailand in einer Phase intensiver urbaner Transformation. Nach der Expo 2015 hat die Stadt einen beispiellosen Bauboom erlebt, der das Stadtbild dramatisch veränderte und internationale Stararchitekten wie Boeri in den Vordergrund rückte. Diese Dynamik wird nun durch die verstärkten rechtlichen Kontrollen gebremst.
Die Architektur im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Kontrolle
Der Fall wirft grundsätzliche Fragen über die Balance zwischen architektonischer Innovation und regulatorischer Aufsicht auf. Während Architekten wie Boeri mit visionären Projekten die Grenzen des Möglichen verschieben, wacht die Staatsanwaltschaft über die Einhaltung von Verfahrensregeln und Bauvorschriften.
Diese Spannung ist nicht neu in der Architekturgeschichte. Viele wegweisende Gebäude entstanden in Grauzonen zwischen Kreativität und Konformität. Der entscheidende Unterschied heute liegt in der erhöhten Transparenz und juristischen Kontrolle öffentlicher Vergabeverfahren.
Was den Fall Boeri besonders brisant macht, ist die Verbindung von ökologischer Avantgarde und mutmaßlichen Regelverstößen. Seine Architektur steht für eine nachhaltige Zukunft – ein Image, das durch die aktuellen Vorwürfe Risse bekommt.
Ein vorläufiges Urteil steht noch aus
Am 4. Februar 2025 wird das vorläufige Gerichtsverfahren eröffnet, bei dem über den Antrag auf Hausarrest entschieden werden soll. Bis dahin bleibt Boeri in der unangenehmen Schwebe zwischen Anschuldigung und Verteidigung.
Unabhängig vom Ausgang dieses Verfahrens hinterlässt der Fall Spuren in der Architekturlandschaft Italiens. Er erinnert daran, dass selbst die größten Namen der Branche nicht über dem Gesetz stehen – und dass die Integrität von Wettbewerbsverfahren ein schützenswertes Gut darstellt.
Für Boeri persönlich steht mehr auf dem Spiel als nur die juristische Bewertung seiner Handlungen. Seine Reputation als Visionär der grünen Architektur und sein Einfluss auf die zukünftige Stadtentwicklung hängen von der erfolgreichen Aufklärung dieser Vorwürfe ab. Die Architekturwelt verfolgt den Fall mit gespannter Aufmerksamkeit.

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