
Die Gratwanderung der Seele: Über Eitelkeit, Verantwortung und wahre Baukunst
Liebe Kollegin, lieber Kollege,
es gibt in unserem Beruf einen Moment der Wahrheit, den ich immer wieder erlebe: wenn die Zeichnungen fertig sind, die Modelle glänzen und alle Kompromisse hinter uns liegen – dann zeigt sich, wer wir wirklich sind. Nicht als Künstler, nicht als Unternehmer, sondern als Menschen, die Verantwortung für die Gestaltung von Raum tragen.
Das Editorial dieser Ausgabe wirft diese Frage auf mit einer Klarheit, die sich nur aus jahrzehntelanger Praxis ergibt: Sind wir unserer eigenen Anschauung verpflichtet – oder sind wir es einer Vielzahl von Dingen, darunter auch unserem Ego?
Die Spannung zwischen Kunst und Kommerz wird oft missverstanden. Sie ist nicht das Problem. Das Problem beginnt, wenn wir diese Spannung nicht mehr als Spannung anerkennen, sondern sie durch narrative Beschönigung aufzulösen versuchen. Wenn wir behaupten, dass ein Instagram-Denkmal in den Bergen gleichzeitig respektvolle Landschaftsinterpretation sei. Wenn wir mit einem goldenen Triumphbogen in Washington behaupten, wir würden Freiheit feiern, während wir in Wahrheit Macht materialisieren. Wenn wir Spektakel mit Innovation verwechseln.
Die sechs Artikel dieser Ausgabe erzählen diese Geschichte in präziser Form: Auf der einen Seite stehen die Projekte, die sich selbst in den Mittelpunkt stellen. Das »Hub of Huts«, die Vertical Chalets, der geplante Ballsaal im Weißen Haus – sie alle legitimieren sich durch Visionen, die bei näherer Betrachtung wenig mit dem zu tun haben, was sie behaupten. Sie sind nicht skandalös, weil sie existieren. Sie sind skandalös, weil die architektonische Kritik – unsere Kritik – so zahm geworden ist, dass sie die Hybris nicht mehr benennt, wenn sie ihr ins Gesicht schaut.
Ein besonders prägnantes Beispiel ist das Savarin-Projekt in Prag von Thomas Heatherwick. Der britische Star-Designer, der sich mit dem Manifest »Humanize« gegen seelenlose Architektur stark macht, liefert genau das: Eine glitzernde Shopping-Mall mit geschwungenen Balkonen und Pflanzenarrangements, die wie die generische Lobby eines Flughafenhotels wirkt. Die obsessive Wiederholung des Treppen-Motivs – jenes Konzept, das bereits beim gescheiterten »Vessel« in New York zu mehreren Suiziden führte – wird hier recycelt und zerschnitten wie architektonische Landminen über den Prager Stadtblock verteilt. Die Marketing-Rhetorik von »Humanisierung« prallte hier auf die bittere Realität: Was als menschenfreundliche Geste intendiert ist, wird zur Karikatur seiner selbst. Die historische Schönheit Prags wird durch einen architektonischen Eindringling kontaminiert, der mit seiner Eitelkeit nicht rechnen kann.
Das ist nicht Demut. Das ist die Perversion von Demut. Das ist Heatherwick, der sich selbst widerspricht.
Auf der anderen Seite stehen ganz andere Arbeiten. Die Frick Collection, saniert mit leiser Hand von Annabelle Selldorf, die es verstand, die Zeit weiterzuschreiben, ohne die Geschichte zu zerstören. Das Canal Café von Diller Scofidio + Renfro, das Ricardo Scofidios Vermächtnis krönt – ein Projekt, das nicht nur schön ist, sondern das sagt: Architektur kann Teil der Lösung sein. Es kann Wasser reinigen, es kann Bewusstsein wecken, es kann Hoffnung vermitteln.
Und dann ist da das Papier-Museum in Dänemark von der Bjarke Ingels Group: Ein ehemaliger Aldi-Supermarkt wird transformiert in ein führendes Museum für Papierkunst Skandinaviens. Das Genie des Projekts liegt in seiner Einfachheit: »Ein einzelnes Blatt Papier, das sich über den Bestand legt« – so beschreibt BIG-Partner David Zahle das Konzept. Keine Marketing-Rhetorik, keine obsessiven Wiederholungen, keine Eitelkeit. Nur eine vereinende Geste. Die Dachkonstruktion ist inspiriert von der Origami-Kunst, die Nachhaltigkeit wird ernst genommen (DGNB-Gold oder Platin angestrebt), und der Raum wird für echte Kultur genutzt. Das ist Transformation durch Reduktion. Das ist echte Architektur.
Der Unterschied liegt nicht in der Größe der Projekte. Der Unterschied liegt in der Haltung – und der Ehrlichkeit dieser Haltung.
Ich kenne diese Alleskönner, die das Spagat vollbringen. Sie sind in deutschen Büros tätig, in österreichischen, in der Schweiz, in Dänemark. Sie navigieren zwischen künstlerischem Anspruch und wirtschaftlicher Realität, zwischen Nachhaltigkeit und Gestaltung, zwischen ihrem Ego und ihrer Ethik. Sie tun dies, indem sie eine fundamentale Entscheidung treffen: Sie akzeptieren, dass nicht sie im Zentrum stehen, sondern die Aufgabe. Der Mensch, der Raum, die Gesellschaft, in die das Gebäude eingebettet ist.
Es gibt aber auch Kolleginnen und Kollegen, die diesen Kampf verloren haben oder nie führen wollten. Sie haben sich einer bestechenden Einfachheit ergeben: dem Design von Bildern statt von Räumen. Der Erzeugung von Aufmerksamkeit statt von Qualität. Sie sind nicht böse. Sie sind nur verzweifelt danach, gehört zu werden.
Die Macht der Architektur ist größer als je zuvor – doch mit dieser Macht wächst auch die Verantwortung. Wenn ein Triumphbogen nichts anderes ist als ein Ego-Monument, wird er zum Symbol einer Zivilisation, die ihre ethischen Grundlagen verloren hat. Wenn die Alpen zu Instagram-Inszenierungen werden, wird Schönheit zur Ware. Wenn Nachhaltigkeitsversprechen nur Greenwashing sind, wenn Marketing-Rhetorik sich als Philosophie tarnt, dann betrügen wir nicht nur die Umwelt, sondern auch uns selbst.
Was ist dann zu tun? Zuerst: Wir müssen wieder lernen, Kompromisse zu benennen. Nicht zu beschönigen. Eine Wärmepumpe auf dem Dach eines Hotels, das eine Berglandschaft zerstört, ist nicht nachhaltig – es ist grüngewaschen. Ein Triumphbogen, der »Unabhängigkeit« feiert, während seine Finanzierung durch nicht-transparente Spender erfolgt, ist nicht demokratische Architektur – es ist autoritäre Ästhetik. Geschwungene Treppen und Pflanzkübel in Prag sind nicht »Humanisierung« – sie sind Marketing. Wir, die Architektinnen und Architekten, müssen diese Unterschiede wieder sehen lernen.
Zweitens: Wir müssen die Projekte stärken, die die andere Richtung einschlagen. Nicht sie preisen, als ob sie spektakulär wären – sondern sie anerkennen als das, was sie sind: schwieriger, komplexer, demütiger. Die Frick Collection wird keine Meinungsartikel füllen. Das Canal Café wird nicht auf jeder Architekturreise landen. Das Papier-Museum wird nicht von Instagram-Influencern überrannt. Aber sie werden richtig wirken, und diese Wirkung hält länger als Likes und Renderings.
Drittens – und das ist für mich persönlich das Wichtigste – müssen wir unseren jungen Kolleginnen und Kollegen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt. Dass man Architektin oder Architekt sein kann und nicht täglich wählen muss zwischen Integrität und Erfolg. Dass die echten Alleskönner genau diejenigen sind, die diesen Dualismus überwindet – nicht durch Narrative, nicht durch Marketing-Rhetorik, sondern durch authentische Haltung.
Die Gratwanderung ist real. Aber die Ansicht, dass es eine Mittellinie gibt zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Eitelkeit und Demut – diese Ansicht ist eine Illusion. Man kann nicht ein bisschen moralisch sein. Man kann nicht behaupten, Architektur zu »humanisieren«, während man eine Stadt kolonisiert. Entweder man akzeptiert, dass Architektur eine gesellschaftliche Verantwortung hat, oder man tut es nicht.
In einer Zeit, da die Welt umgestellt werden muss auf Nachhaltigkeit, da die Klimakrise nicht mehr abstrakt ist, da die Polarisierung der Gesellschaft auch in unseren Gebäuden sich abbildet – in dieser Zeit brauchen wir nicht mehr spektakuläre Architektur. Wir brauchen wahre Architektur. Architektur, die nicht prahlt, sondern dient. Die nicht trennt, sondern verbindet. Die nicht dominiert, sondern integriert. Architektur, die einen alten Supermarkt mit der gleichen Würde behandelt wie einen historischen Stadtkern.
Ich wähle diesen Weg. Und ich hoffe, dass viele von uns das tun.
Herzlichst Ihr
Stuart Stadler

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