
Liebe Kollegin, lieber Kollege,
während in Los Angeles die Flammen wüten und Valencia unter Wassermassen verschwindet, vollzieht sich in Venedig eine stille Revolution. Alle zwei Jahre verwandelt sich die Lagunenstadt zur wichtigsten Architekturveranstaltung der Welt – und Carlo Rattis Biennale „Intelligens. Natural. Artificial. Collective.“ markiert das Ende einer Ära: der Ära der architektonischen Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer.
„To face a burning world, architecture must harness all the intelligence around us“, erklärt der MIT-Professor. Seine Worte treffen ins Mark unserer beruflichen Realität. Jahrzehntelang glaubten Architektinnen und Architekten, sie könnten die Klimakrise durch bessere Dämmung und effizientere Haustechnik lösen. Mitigation hieß das Zauberwort. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache: 34 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs, 37 Prozent aller Treibhausgase – unsere Branche ist Teil des Problems, nicht der Lösung.
Ratti wagt den Paradigmenwechsel: von Mitigation zu Adaptation. Nicht mehr verhindern, sondern anpassen. Diese Erkenntnis ist bitter, aber notwendig. Die Klimakrise ist da – jetzt müssen Gebäude damit leben lernen.
Die Antwort liegt in Venedig versteckt zwischen 750 Mitwirkenden aus allen Disziplinen. Mathematikerinnen optimieren Grundrisse, Köche entwickeln nachhaltige Materialien, Soziologen analysieren Nutzerbedürfnisse. Zum ersten Mal in der Biennale-Geschichte öffnete sich die Ausstellung für alle – „Space for Ideas“ demokratisierte die Teilhabe. Wie diese neue Bildungsrevolution funktioniert und was 200 junge Talente aus 49 Ländern dabei lernen, zeigen wir in unserem Bildungs-Schwerpunkt.
Diese Öffnung ist mehr als Symbolik. Sie zeigt einen Weg aus der selbstverschuldeten Isolation unseres Berufsstandes. Zu lange haben Architekten und Architektinnen geglaubt, sie wüssten allein, was gut für die Welt ist. Die Ergebnisse sprechen gegen uns: unbezahlbare Mieten, energiefressende Gebäude, seelenlose Quartiere.
Wenn Roboter träumen

„A Robot’s Dream“ © O.C.Haas
Die technologische Revolution des Bauens steht bevor: In den Corderie dell’Arsenale träumt ein Humanoid-Roboter von der Zukunft der Konstruktion, während KI traditionelle japanische Holzverbindungen optimiert und Mikroorganismen Beton züchten. Unsere Innovation-Reportage zeigt, welche Technologien wirklich das Bauen verändern werden.
Der österreichische Pavillon macht es vor: Wien trifft Rom, Top-down begegnet Bottom-up. Hundert Jahre sozialer Wohnbau treffen auf römische Selbstorganisation. Beide Modelle haben ihre Berechtigung, beide ihre Schwächen. Wie kollektive Intelligenz die globale Wohnungskrise lösen könnte, analysieren wir in unserem Gesellschafts-Artikel.
Natur als Lehrmeisterin
Besonders bemerkenswert ist Boonserm Premthadas „Elephant Chapel“ – Ziegel aus Elefantendung, die eine jahrtausendealte Partnerschaft zwischen Mensch und Tier ehren. Hier wird Architektur zu dem, was sie immer war: Teil eines größeren Ganzen. Nicht Dominanz über die Natur, sondern Kooperation mit ihr. Die poetische Dimension dieser bio-inspirierten Architektur beleuchten wir in unserem Inspiration-Beitrag.
Doch Venedig zeigt auch die Grenzen kollektiver Euphorie. „A claustrophobic mess of bio and techno theatrics“, urteilte ArtReview harsch. 760 Mitwirkende können durchaus zu viel des Guten sein. Auch kollektive Intelligenz braucht Struktur, Führung, klare Ziele. Unsere kritische Meinungs-Analyse hinterfragt, ob Rattis Experiment wirklich funktioniert.
Praktische Lehren für den Berufsalltag
Die Lehre für unsere Praxis ist simpel: Öffnung ja, aber mit Augenmaß. Interdisziplinäre Teams bereichern Projekte, erfordern aber neue Arbeitsformen. Open-Source-Lösungen sparen Entwicklungszeit, funktionieren aber nicht für alle Bereiche. Partizipative Planung verbessert Ergebnisse, kostet aber Zeit und Geduld.
Der Hamburger Kollege Michael Koch fasst es treffend zusammen: „KI kann optimieren, aber nicht gestalten. Der kreative Funke kommt immer noch vom Menschen.“ Technologie ist Werkzeug, nicht Ersatz für menschliche Kreativität.
Was nehmen Architektinnen und Architekten aus Venedig mit? Nicht die träumenden Roboter oder Elefantendung-Ziegel, sondern eine andere Haltung. Demut vor der Komplexität der Aufgaben. Offenheit für andere Disziplinen. Mut zu neuen Kooperationen.
Ein Besuch, der sich lohnt
„Architecture is survival“, lautet Rattis Credo. In einer brennenden Welt wird Architektur zur Überlebensstrategie. Aber nur, wenn alle Intelligenzen zusammenwirken – natürliche, künstliche und kollektive.
Erleben Sie diese Revolution selbst: Die 19. Internationale Architekturausstellung läuft noch bis zum 23. November 2025 in den Giardini und im Arsenale von Venedig. Geöffnet täglich von 11 bis 19 Uhr (bis 28. September), danach von 10 bis 18 Uhr. Montags geschlossen. Eintritt: 25 Euro, ermäßigt 22 Euro für Studierende und Senioren über 65. Eine Investition, die sich lohnt – nicht nur für die eigene Inspiration, sondern für die Zukunft unserer Profession.
Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Die Zukunft gehört den vernetzten Teams. Überzeugen Sie sich selbst in Venedig.
Herzlichst Ihr
Stuart Stadler

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